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Lea

Titel: Lea
Autoren: Pascal Mercier
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es lief und lief, die Patienten verbluteten.
    ›Ist ja auch ein Wunder, daß die euch nicht verbluten‹, sagte der Schulkamerad, der Psychiater geworden war. ›Warum hörst du nicht einfach auf? Wolltest du nicht einmal Fotograf werden oder Kameramann? Irgendwann verlieren wir die natürliche Selbstverständlichkeit des Lebens. Das Alter. Nimm es als Zeichen.‹
    Eine Woche später ließ ich mich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. Die Blumen von der Abschiedsfeier warf ich auf meinem letzten Gang nach Hause in die Mülltonne. Aufwachen tue ich immer noch so früh wie ein Chirurg.«
    Was ich nicht erzählte: wie ich die Fotos von mir aus Boston hervorholte, Bilder eines Mannes, der den Dingen gewachsen war, dazu die Videos meiner Vorlesungen und Operationen; wie ich mein Gesicht erforschte auf der Suche nach der damaligen Sicherheit; wie ich voller Neid meine sicheren und flinken Hände betrachtete, denen das Blut nichts ausmachte; wie ich plötzlich das Gefühl hatte, die jetzige Erschütterung bringe auch alles Frühere zum Einsturz, die Dominosteine der Vergangenheit fielen um, einer nach dem anderen, alles war Täuschung gewesen, nicht Lüge, aber Täuschung. Und auch das verschwieg ich: wie ich nach der telefonischen Reservierung des Hotels in Avignon in Panik geriet, weil ich plötzlich nicht mehr zu wissen meinte, wie man in einem Hotel ein- und auscheckt; wie ich Sätze ausprobierte, die zu sagen wären; und wie ich dann ungläubig auf dem Bett lag und an all die Luxuskästen dachte, in denen ich auf Kongressen in Indien und Hongkong gewohnt hatte. Selbstvertrauen: Warum ist es derart launisch? Warum ist es blind den Tatsachen gegenüber? Ein Leben lang haben wir uns angestrengt, es aufzubauen, zu sichern und zu befestigen, wissend, daß es das kostbarste Gut ist und unverzichtbar für Glück. Plötzlich dann und mit tückischer Lautlosigkeit öffnet sich eine Falltür, wir fallen ins Bodenlose, und alles, was war, wird zur Fata Morgana.
    Wie es sei, eine Tochter im Internat zu haben, fragte Van Vliet. Ob man dann überhaupt noch das Gefühl habe, sie aufwachsen zu sehen. »Entschuldigung, ich versuche es mir einfach vorzustellen.« Wie oft ich sie besucht hätte. Ob ich ihre erste Liebe miterlebt hätte, ihren ersten Liebeskummer. Das Chaos der Gefühle bei der Berufswahl.
    Ich saß mit Leslie im Café neben dem Internat. »André – das ist vorbei«, hatte sie gesagt und war sich mit dem Taschentuch über die Augen gefahren. »Ich hatte es mir schöner vorgestellt; das erste Mal, meine ich.« Wie war’s damals bei dir? wollte sie fragen, ich sah es. Doch dazu reichte es zwischen uns nicht. »Ärztin«, sagte sie ein anderes Mal und grinste. »Nein«, sagte ich. »Doch«, sagte sie. Ich glaube, das war das erste Mal, daß wir uns beim Abschied umarmten, und das letzte.
    Ich hatte geschwiegen. »Entschuldigung«, sagte Van Vliet. Um mich zurückzuholen, trug er ein Detail aus seinem Traum nach: Immer wenn Ruth Adamek eine Geige anfaßte, schrumpfte sie, so daß man bei Krompholz fortan nur noch winzige Achtelgeigen kaufen konnte. Van Vliet mochte es, wenn sie sich dafür schämte und nervös an ihrem Minirock zog. Ich wußte: Er hatte das nicht geträumt; er hatte es gerade eben erfunden, um wiedergutzumachen, daß er mich nach Leslie gefragt hatte.
    »Die wirkliche Verkäuferin bei Krompholz«, fuhr er fort, »war ganz anders als Ruth Adamek; und während Ruth von Jahr zu Jahr mehr zu meiner Gegenspielerin im Institut wurde, gewann ich in Katharina Walther, der zweiten Frauengestalt in jenem Traum, eine Art Freundin, mit der ich in Gedanken oft Zwiesprache hielt, wenn es um Lea ging. Als ich am Morgen nach Loyolas Konzert als erster Kunde das Geschäft betrat, kam sie auf mich zu – eine Frau in den Fünfzigern, an der vor allem die Gelassenheit auffiel, mit der sie sich bewegte und die auch in ihrem ruhigen, hellgrauen Blick zum Ausdruck kam. Ein achtjähriges Mädchen, sagte sie, müßte noch mit einer halben Geige beginnen, mit zehn etwa käme die Dreiviertelgeige, und ab dreizehn oder vierzehn würde man zu einer ganzen übergehen. Als ich mich über die Ausdrücke ›halbe Geige‹ und ›Dreiviertelgeige‹ verblüfft zeigte, sah ich an ihr zum ersten Mal das zurückhaltende Lächeln, das so gut zu dem graumelierten Haar und der strengen Frisur mit dem Knoten im Nacken paßte. Manche Schallplatte habe ich später nur gekauft, um dieses Lächeln zu sehen.
    Die kleine Geige, die sie aus dem
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