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Lazyboy

Lazyboy

Titel: Lazyboy
Autoren: M Weins
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hätte, den Weg dorthin zurückgelegt zu haben.«
    »Reale Orte«, sage ich, als ich seinen Blick sehe. »Und ich habe nichts dabei getrunken, falls Sie das jetzt denken. Ich stehe perplex da und wundere mich, wie ich hierhergekommen bin. Gestern zum Beispiel wollte ich ein Restaurant am Schulterblatt betreten, und plötzlich stand ich im Gewächshaus des Botanischen Gartens in Klein Flottbek, wie ich nach einer Weile feststellte. Erst dachte ich noch, oh, schick hier, so viele Pflanzen können die doch unmöglich in ein Restaurant stellen.«
    »Habe ich Sie richtig verstanden?«, fragt Dr. Brose. »Sie kommen plötzlich irgendwo zu sich und wundern sich, was Sie dort machen?«
    »Genau«, sage ich.
    »Sie leiden an Erinnerungslücken?«
    »Vermutlich«, sage ich. »Sie sind der Fachmann.«
    »Haben Sie in letzter Zeit mit besonderem Stress physischer oder psychischer Art zu tun? Leiden Sie unter besonderen Anspannungen oder Belastungen?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Nehmen Sie Drogen?«
    »Was genau sind für Sie Drogen?«
    »Bewusstseinsverändernde Suchtmittel wie Kokain, Heroin etc., aber auch Alkohol ...«
    »Unterliegen Sie eigentlich der ärztlichen Schweigepflicht?«
    »Sicherlich.«
    »Fällt Cannabis auch unter die Drogen?«
    »Selbstverständlich.«
    »Dann Alkohol und gelegentlich den guten alten Bruder Joint. Sonst eigentlich nichts mehr, mit Ausnahmen.«
    »Was heißt das?«
    »Die wilden Jahre sind vorüber.«
    »Können Sie das bitte konkreter fassen? Was haben Sie konsumiert? Wie lange liegt der letzte Konsum zurück?«
    »Spielt das wirklich eine Rolle?«
    »Vermutlich.«
    »Ach, ich weiß nicht, Pillen, Koks, Amphetamine, LSD. Und einen Kaktus habe ich mal gegessen, aber das liegt schon eine ganze Weile zurück.«
    Ja, Mann, denke ich, der Kaktus. Da könnte ich glatt ins Schwärmen geraten. Obwohl ich damals buchstäblich die Hosen voll hatte. Ende der 90er-Jahre bin ich sommers mit einem Menschen, der sich selbst Birdie nannte, ich nannte ihn Drogen-Bert , und seinem Freund, der aussah wie ein gemästeter Indianerjunge, riesig groß und breit, lange dunkle Haare, markante Nase, im Nordosten Hamburgs am späten Nachmittag in den Wald gefahren, um einen Kaktus zu essen. Wir suchten uns eine nette Lichtung, auf der wir eine Decke ausbreiteten.
    Drogen-Bert wohnte damals auf dem Kiez. Heute wohnt er mit Frau und Kind in einem schönen Eigenheim im Speckgürtel der Stadt und ist Chirurg oder etwas ähnlich Schneidiges. Vormittags hatten wir in seiner WG-Küche im fünften Stock eines St.-Pauli-Altbaus gesessen und den meskalinhaltigen San-Pedro-Kaktus, den er per Mailorder bestellt hatte, in einen psychoaktiven Pflanzenmatsch verwandelt. Diesen Kaktus verehren einige Indianervölker als heilige Pflanze, die zu rituellen Zwecken genutzt wird. Wir hatten ihn mit dem Kartoffelschäler von seinen Stacheln befreit und anschließend wie eine Gurke in Stücke geschnitten und durch die Moulinette gedrückt. Die so entstandene Pflanzenpampe wurde gesalzen und gepfeffert und in eine leere Tri-Top-Flasche abgefüllt.
    Auf der Lichtung schminkten wir uns gegenseitig mit Karnevalsfarben, wir waren jung, wir wussten es nicht besser, dann zwangen wir uns den bitteren Kaktustrunk hinein. Bald saßen wir mit weit nach innen hallenden Gehirnen da und ließen uns von der weichen Hand des Windes streicheln. Weißbewimperte Gräser wiegten sich im Nachmittagslicht. Anschließend liefen wir ein paar Stunden schwankend durch den Wald, nachdem wir vorher ausführlich gekotzt hatten, sahen Lichter und Farben, zogen uns nackig aus, weil uns plötzlich rasend intensiv danach war, und begegneten in der Dämmerung einem Spaziergänger mit seinem Hund. Heute würde ich viel Geld dafür geben, dessen Wahrnehmungsfilm vor- und zurückspulen zu können. Er geht ahnungslos mit seinem Hund durch den Wald, wie jeden Abend, und trifft plötzlich auf drei groß gewachsene, nackte Spinner mit baumelnden Penissen und grotesk bemalten Gesichtern, die mit tiefschwarzen Pupillen durch den dämmrigen Wald auf ihn zugewankt kommen. Peinlich, würde ich heute sagen, aber damals war es mir egal, ich war ein Lichtschwimmer, ich schwamm durch die warme Abendluft, und alleine schon zu atmen war ein großes Fest. Wir waren die Urhorde auf der Jagd, wir dachten synchrone Gedanken, ich höre mich noch denken, Erdberührer, als ich meine Schuhe auszog und mit nackten Sohlen verzückt über den Waldboden tapste, Erdberührer, es sind keine Füße, es sind
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