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Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)

Titel: Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Autoren: Anja Maier
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zum Bäcker – jeder hier kennt das Kind, alle passen auf. Und wenn Frau Wissmann am Nachmittag zwischen Kita, Biomarkt und der Eigentumswohnung unterwegs ist, dauert das einfach mal etwas länger, so viele Schwätzchen gilt es zu halten. Susanne Wissmann genießt das. Sie kommt aus einer Kleinstadt in Westfalen, hier zu leben fühlt sich fast wie zu Hause an. Nur mit dem Unterschied, dass zum gewohnten und gewünschten dörflichen Ambiente auch sämtliche Annehmlichkeiten einer Weltstadt hinzutreten. Im Moment, mit den drei kleinen Kindern, ist ihr selbstredend das Provinzielle wichtiger, die schöne Überschaubarkeit, die Sauberkeit, der allen gemeinsame Lebensentwurf.
    Was sie aber stört, sind die Vorurteile. »Was soll die ewige Anmache von wegen Latte macchiato und Prenzlauer Berg«, schimpft sie. »Ich verstehe es nicht. Mein Mann ist Ossi und wohnt seit Ewigkeiten hier, ich bin als ›Wessi-Tussi‹ vor zehn Jahren dazugestoßen. Latte macchiato mögen wir beide nicht, und unsere Kinder haben auch nie in einem dieser sauteuren Boogaboo-Kinderwagen gethront.« Die beiden Wissmanns fragen sich, was es so viele Jahre nach dem Mauerfall eigentlich zu meckern gibt daran, dass Leute wie sie und all ihre Freunde jetzt hier leben. Gerade Jürgen Wissmann kann das Ost-Gejaule nicht mehr hören – er kommt ja von da. »Mein Problem ist: Ich bin kein Ossi mehr. Ich bin zum Beispiel zweiundzwanzig Jahre nach 1945 geboren worden – ist der Krieg deshalb mein Thema? Sicher nicht. Und so ist es auch mit der DDR , die ist einfach vorbei, Gott sei Dank!«
    Also gibt es im Osten keinen Osten mehr? Weil der Osten jetzt den Westlern gehört? Nein, nein, sagen beide, Überreste gebe es noch in ein paar Ecken: ein kruschteliger Schreibwarenladen in der Hauptstraße fällt ihnen ein, eine alteingesessene Textilreinigung … und natürlich die DDR in den Schulen, der alte Mief von Volksbildung. »Das«, stöhnt Jürgen Wissmann, »erledigt sich nur über Aussterben, da ist noch vieles superostig.« Er weiß, wovon er redet, Raja geht in die erste Klasse.
    Aber bis auf die paar postsozialistischen Grundschullehrerinnen findet er es ganz und gar himmlisch hier im Bötzowviertel. Er schwärmt von der Infrastruktur für Familien, von den vielen Spielplätzen, den Straßenfesten und den kleinen Initiativen der Leute hier. Als zum Beispiel die Bibliothek geschlossen werden sollte, haben die Bewohner des Viertels dafür gesorgt, dass sie offen bleibt und die Ausleihe selbst organisiert. »So was geht ja auch nicht«, sagt Susanne Wissmann, »in Laufnähe von allein drei Grundschulen muss es doch eine Bibliothek geben!«
    Nein, das geht natürlich nicht. Kinder gibt es hier jede Menge, sie sind das lebendige Prinzip des Viertels, Ausdruck von Lebensqualität und Gruppenzugehörigkeit. Leider, das finden auch die Wissmanns, sieht man in den Straßen so gut wie keine alten Leute mehr. Auch aus ihrem Wohnhaus sind inzwischen die letzten Altmieter ausgezogen, nachdem sie erfahren hatten, dass die Mietobergrenzen hier im Bötzowviertel gekappt werden. »Wir gehen freiwillig, bevor wir dazu gezwungen sind«, haben sie zu den Nachbarn gesagt und ihre Sachen gepackt. »Schade«, sagt Jürgen Wissmann, es wäre gut, wenn die Kinder auch mal was anderes als Kinder und Eltern sehen würden, Abwechslung hätten, »aber es ist doch allgemein zu beobachten, dass die Generationen vereinzeln«. Hier die Jungen mit den Jüngsten, irgendwo anders die Alten, Armen, Schwachen. Warum sollte das hier anders sein?
    Im Bötzowviertel sind eben nicht nur alle jung und gebärfreudig. Susanne Wissmann findet es zusätzlich angenehm, dass in den Straßen und Cafés, auf den Spielplätzen und Elternversammlungen alle gut und gesund ernährt aussehen. »Ich kenne hier kein fettleibiges Kind«, sagt sie, »das muss an der Ernährung liegen.« Und was ist mit Unterschieden, frage ich, soll ein Kind nicht wissen, dass es verschiedene Menschen gibt – auch Arme, Kranke, Benachteiligte? Gehört das nicht zum Erwachsenwerden, zu wissen, dass es Ungerechtigkeit gibt, Scheitern, manchmal einfach Pech? Susanne Wissmann stellt eine Gegenfrage: »Müssen wir in einen Problembezirk ziehen, um unseren Kindern die Realität zu zeigen? Wir sind nicht traurig, wenn wir das nicht haben, ehrlich.« Und Jürgen Wissmann erklärt: »Ich fahre ja auch nicht zum Ballermann, um den Kindern Säufer zu zeigen.« Ihm ist dennoch wichtig, dass die Kleinen nicht wie im Gewächshaus aufwachsen,
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