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Lanzarote

Lanzarote

Titel: Lanzarote
Autoren: Michel Houellebecq
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hinunter, um die happy hour zu nutzen. Als ich eben einen M atador Surpri se b estellte, betrat Rudi den Raum. Wie hätte ich ihn nicht an meinen Tisch bitten können? Also tat ich es.
    »Hatten Sie einen guten Tag?«, legte ich lässig los. »Ich nehme an, Sie haben den Ausfug nach Fuerteventura mitgemacht.« »Ja, stimmt.« Er schüttelte unschlüssig den Kopf, bevor er wei tersprach. »Es war ein Flop; ein völliger Flop. Absolut uninte ressant, wirklich. Und jetzt habe ich alle Ausfüge mitgemacht, die das Hotel anbietet.« »Bleiben Sie für eine Woche?« »Nein, zwei«, sagte er niedergeschlagen. Da säße er wirklich schon in der Tinte. Ich lud ihn zu einem Cocktail ein. Wäh rend er die Karte las, konnte ich in Ruhe sein Gesicht studieren. Er hatte einen weiblichen Teint, trotz der Tage an der Sonne, und über seine Stirn verliefen Sorgenfalten. Schwarze, etwas angegraute, kurze Haare, üppiger Schnurrbart. Er schaute traurig drein, sogar fast verloren. Ich gab ihm etwas mehr als fünfundvierzig Jahre. Wir unterhielten uns über die Insel, über ihre Schönheit. Drei Matador Surprise später beschloss ich, persönlichere Themen anzugehen.
    »Sie haben so einen leichten Akzent... Ich nehme an, Sie sind Belgier?«
    »Nicht ganz.« Jetzt zeigte er ein überraschendes, fast kind liches Lächeln. »Ich bin in Luxemburg geboren. Jetzt bin ich auch eine Art Gastarbeiter ...« Er sprach von Luxemburg wie von einem verlorenen Paradies, während es doch bekanntlich ein winziges, mittelprächtiges Ländchen ist, ohne genauere Eigenschaften – nicht mal ein Land eigentlich, eher eine An sammlung von Phantombüros, von Briefkastenfrmen auf Steuerfucht, in Parks verstreut.
    Wie sich herausstellte, war Rudi Polizeiinspektor und lebte in Brüssel. Beim Abendessen sprach er verbittert über diese Stadt. Die Kriminalität wuchs schwindelerregend; immer öf ter wurden Passanten in Einkaufsmärkten von Jugendgangs angegriffen, am hellichten Tag. Von der Nacht noch ganz zu schweigen; schon seit langem traute sich keine Frau mehr nach Sonnenuntergang allein vor die Tür. Der islamistische Fundamentalismus hatte besorgniserregende Ausmaße an genommen; nach London war jetzt auch Brüssel zu einem Heiligtum des Terrors geworden. Auf Straßen und Plätzen waren immer mehr verschleierte Frauen zu sehen. Zudem hatte der Konfikt zwischen Flamen und Wallonen auch noch an Schärfe zugenommen; der VlaamsBlok stand kurz vor der Machtübernahme. Er redete über die europäische Metropole wie über eine Stadt am Rande des Bürgerkriegs.
    In seinem Privatleben sah es kaum besser aus. Er war eigent lich mit einer Marokkanerin verheiratet, aber seine Frau und er lebten seit fünf Jahren getrennt. Sie war nach Marokko zu rückgegangen und hatte die beiden Kinder mitgenommen; er hatte sie seitdem nicht wiedergesehen. Insgesamt schien Rudis Existenz sich am Rande der menschlichen Totalkatastrophe zu bewegen. Und warum war er nach Lanzarote gekommen? Unentschlossenheit, Urlaubsreife, eine tatkräftige Reisebüro angestellte; kurz, das klassische Szenario.
    „Egal, die Franzosen schauen sowieso auf die Belgier herab«, schloss er, »und am schlimmsten ist: Sie haben Recht. Belgien ist ein kriminelles und absurdes Land, ein Land, das es nie hätte geben dürfen.«
    »Sollen wir vielleicht einen Wagen mieten?«, fragte ich, um die Stimmung etwas aufzulockern.
    Der Vorschlag schien ihn zu überraschen; ich wurde lebhaft. Die Insel bot wirkliche Schönheiten; auf unserem Ausfug nach Timanfaya hatten wir das ja sehen können. Freilich schien das den Einwohnern von Lanzarote nicht bewusst zu sein; aber darin unterschieden sie sich keineswegs von den meisten Eingeborenen andernorts. In anderer Hinsicht aber waren sie seltsame Wesen. Sie waren klein, schüchtern und traurig, strahlten aber eine zurückhaltende Würde aus; so ganz unähnlich dem Klischee vom mediterranen Tempera mentsbolzen, an dem gewisse norwegische oder holländische Touristinnen sich so erfreuen. Diese
    Traurigkeit wirkte uralt; in einem Buch von Fernando Arra bal über Lanzarote hatte ich gelesen, dass die prähistorischen Bewohner der Insel nie auf den Gedanken verfallen waren, zur See zu fahren; alles, was sich jenseits der Küste befand, schien ihnen zum Reich der Ungewissheit und des Irrtums zu gehören. Zwar beobachteten sie die Feuer auf den benach barten Inseln; aber sie hatten nie neugierhalber nachsehen wollen, ob die Urheber dieser Feuer menschliche Wesen und ob diese
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