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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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Kornitzers, die aufgeführt waren in dem biographischen Artikel, mit ihrem rollenden englischen Akzent herunter, ein Stationendrama im Stakkato, Jahreszahlen und Stufen, Jahreszahlen und Ehrungen, 1. Juristisches Staatsexamen, 2. Juristisches Staatsexamen, Promotion, Gerichtsassessor in Berlin, Zwangspensionierung, Auswanderung nach Kuba, dort Rechtskonsulent, Rechtsbeistand für andere Emigranten, Rückkehr nach Deutschland, Vorsitzender des Lindauer Kreis-Untersuchungsausschusses für die politische Säuberung, Einstellung als Landgerichtsrat in Mainz, Ernennung zum Landgerichtsdirektor in Mainz, Wahl zum Vizepräsidenten der Akademie für Völkerrecht in Den Haag, Ernennung zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht, Versetzung in den Ruhestand (auf eigenen Antrag), all das ergab eine schlüssige Linie ohne Ausrutscher und Schlenker, die lückenlose Lebenslinie ihres Schwiegervaters, den sie nicht besonders gut kannte, der ihr aber bedeutend vorkam, ja, ihr selbst und ihrem Mann fraglos haushoch überlegen. Sie hatte keine Fragen gestellt, und er hatte von sich aus wenig über sich gesprochen. Senatspräsident am Oberlandesgericht, das las sich einschüchternd. (Sie war ein schlichtes Gemüt.) Er war jemand, zu dem man aufblicken konnte, aufblicken mußte, die Lücken, die Fallstricke kannte sie nicht. Vielleicht hatte er durch die Schwiegertochter hindurch geschaut mit seinen wäßrigen Augen.
    George war im mittleren Alter einem Angebot gefolgt, zu einer Ingenieursfirma an den Rhein zu wechseln. Es war ein gutes Angebot, sein Arbeitgeber schätzte seine englischen Verbindungen und schrieb es nicht nur sich persönlich, sondern der deutschen Wirtschaft gut, daß der „halbe Engländer“, wie er ihn nannte, in seine Firma eingetreten war. (In Wirklichkeit war er ja mindestens ein Siebenachtel-Engländer, in Berlin geboren, aber nie mehr in Berlin gewesen, ein englisches Landei, das sich in einer Kleinstadt in Suffolk wohlfühlte und geheiratet und Kinder bekommen hatte. Alles hatte sich gerundet, nun ja, bis er es sich anders überlegte. Als unstet empfand er sich nicht, eher als wurzellos.) Daß sein Arbeitgeber an der Ausschreibung für ein internationales Projekt interessiert war und ihm der zweisprachige Ingenieur überaus nützlich war, begriff Kornitzer erst, als er die neue Stelle angetreten hatte.
    Das Ingenieurswesen in England, da hätte der deutsche Unternehmer Kornitzer am liebsten auf die Schulter gehauen, sei ja doch nur halber Kram, ja, beim Eisenguß, bei Queen Victoria, da sei England führend gewesen. Die Tüftler säßen in Deutschland, so sei es immer gewesen. Er sprach so überzeugend, als dulde er keinen Widerspruch. (Dachte er an die V2? An die bedrohlichen Feuerschweife hinter den Raketen, die über Kent hinweggezischt waren? Vermutlich nicht, aber George dachte daran.) George Kornitzer hatte die Bombardierungen der deutschen Luftwaffe in England gesehen, er hatte mit seiner Pflegefamilie im Keller gesessen und gezittert. Er hatte, wenn der Angriff vorbei war, die Löscharbeiten der Feuerwehrmänner und die stoische Hilfe der Nachbarn der Geschädigten gesehen. In seiner Phantasie läßt er alle zerstörten Brücken in altem Glanz wiederauferstehen, das soll die Chance seines Lebens sein, und er sonnt sich in diesem Glanz. Am großen Tisch mit den Hales-Kindern und den Pflegeeltern schwärmt er von Brückengerüsten und Filigranpfeilern und staunt über alle, die beim Anblick der vielen zerstörten Brücken klagen.
    Dann hatte er den Vertrag unterschrieben, für seine Frau war es ein Abenteuer,
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zu leben, das hatte kaum jemand aus Ipswich gewagt. Sie hatten das Reihenhaus in Ipswich gegen ein Reihenhaus in einer deutschen Kleinstadt vertauscht, einen roten Ziegelbau mit Veranda gegen einen hellen Rauhputzbau mit Erker, einen saftigen Rasen gegen einen matten Rasen mit Löwenzahn, ein Mäuerchen gegen einen Jägerzaun. George Kornitzer tat dies mit Gleichmut. Ja, die Bezahlung war gut, die Arbeit keine Tüftelei, sondern Reißbrettarbeit.
    Er war angekommen. Angekommen, aber wo? Das Ankommen war eine Erschütterung wie das Weggehen, so hatte er es von seinem Vater erfahren. Aber er wollte sich solche Gedanken nicht machen. Er wohnte jetzt an einem Hang über dem Rhein, etwa fünfzehn Kilometer von Mainz entfernt, er blickte auf Weinberge, kahle Hänge im Winter, aus denen die Stöcke ragten, grünes Laub im Sommer, er sah die Lastkähne, die die Loreley grüßten, er hörte die
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