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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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systematischen Bekämpfung der Konterrevolution wurden
Komitees zum Schutze der Revolution
ins Leben gerufen, die sich krakenhaft in allen Häuserblocks, Dörfern und Kooperativen ausbreiteten und sich das Recht auf Einmischung in alles Mögliche nahmen. Goldenberg kritisierte, es gebe keine Tradition lokaler oder regionaler Selbstverwaltung, der Aufbau eines politischen Zwangsapparats war ihm zuwider. Er kritisierte, daß Kuba – mit vollem Einverständnis Castros – ein Satellitenstaat Moskaus wurde, wie es vorher ein Hinterhof, eine abschüssige Hintertreppe in die USA gewesen war.
    Dann erreichte Kornitzer ein Telegramm von Goldenberg: AMANDA KOMMT VIA FRANKFURT MAIN. Und es folgte ein Datum. Eine gänzlich unerwartete Nachricht, nicht einmal eine Nachricht aus einem Traum. So stand er an einem frühen Dezembermorgen am Frankfurter Flughafen in einem Sonderbereich Amanda gegenüber. Gänzlich unvorbereitet und sprachlos – sein Spanisch war in eine tiefe Herzensfalte gerutscht und wollte nicht gleich über die Lippen. Aufmerksam stand sie da, nicht sonderlich übernächtigt nach dem langen Flug, sehr hellhäutig, und sie war groß, fast so groß wie er. Sie stand ihm in Augenhöhe gegenüber (wie Claire es getan hatte, nur Charidad, zierlich, beweglich, hatte eine fremde Körperlichkeit), es schien, als sei sie gar nicht aufgeregt, im Gegensatz zu ihm. Und sie hatte, anders als Georg und Selma, als er sie als Halbwüchsige wiedertraf, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Ein Lächeln, als gebührte das dem fremden Vater in Deutschland. Und Kornitzer lächelte zurück; etwas schmolz. Und aus der Erinnerung an die erste Wiederbegegnung mit Selma schoß es ihm durch den Kopf: Ich darf sie nicht berühren! Ich darf sie nicht umarmen! Vielleicht, sagte sich Kornitzer später, hätte Amanda eine Berührung durch den fremden Vater genossen. Und so stand er steif neben ihr, in seinem schweren, dunklen Wintermantel, sie dagegen trug ein windiges, schäbiges Mäntelchen, Schuhe mit zu dünnen Sohlen, aber anstatt die kalten Hände in den Taschen zu vergraben, fuchtelte sie damit herum, wies auf ihre Gepäckstücke. Sie sprach mit einer für eine junge Frau ungewöhnlich tiefen Stimme, selbstbewußt wie ihre Mutter und eigenwillig, wie sie ihr Gepäck aufnahm und es den Vater keinesfalls tragen lassen wollte. Es kam ihm vor, als schone die kraftvolle Tochter ihn.
    Er erledigte die schwierigen Formalitäten der Einreise mit ihr. Ja, sie war eine Asylantin, ein politischer Flüchtling. Nach einer Wartezeit auf einer harten Bank blieb es ihr erspart, in eine Notunterkunft, in ein Heim eingewiesen zu werden. Kornitzer bürgte für sie, er verpflichtete sich, im Notfall (was hieß hier Notfall?) für sie zu sorgen. Daß ein Senatspräsident a. D. eine junge Kubanerin in Empfang nahm, das machte Eindruck bei den Beamten am Flughafen, alles war leichter, als er es erwartet hatte. Der Grund seines Engagements für die junge Kubanerin blieb den Beamten verborgen. Unlauter schien es nicht. Man notierte seine Adresse, Amanda würde Befragungen über sich ergehen lassen. (Kam sie in einer Mission, war sie zur Spionage angeheuert, aufgestachelt worden? Was konnte sie über ihr Land berichten, welche brisanten Interna wußte sie? Ein Herr vom Bundesnachrichtendienst würde sie befragen, einmal, zweimal, mehrmals vielleicht.) Es war auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Nicht jeden Tag kam eine Asylantin aus einem mittelamerikanischen Land am Frankfurter Flughafen an.
    Im Schindelhaus zeigte Kornitzer der Tochter die Zimmer und ließ sie wählen, ob sie Georges oder Selmas Zimmer benutzen wollte. Nach einem kurzen, kritischen Blick auf die Druckgraphik mit den blauen Pferden entschied sie sich für Georges Zimmer. Den Globus drehte sie so, daß Amerika im Blickfeld lag. Sie sprach mit Wärme von ihrer Mutter, aber auch mit Respekt. Sie sagte, wie schwer sie es habe in der Schule, die sie doch liebe. Alles sei jetzt ideologisiert in Kuba, der Mathematikunterricht bestehe darin, auszurechnen: Wenn im Jahr 1956 soundsoviel Prozent der kubanischen Bevölkerung Analphabeten gewesen seien, wieviel es heute nur noch seien. Das Bildungsmonopol der Besitzenden solle gebrochen werden. Aber weder Charidad noch die Kusine und ihr Mann seien Besitzende. Noch im nachhinein empörte sich Amanda darüber, daß im April 1961 alle höheren Schulen geschlossen worden waren, die Schüler wurden nach rasch organisierten Schnellkursen
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