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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: U Krechel
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als
Alphabetisatoren
aufs Land geschickt. Was, um Himmels willen, konnte ich denn jemandem beibringen? Alten Leuten? Männern, die Zuckerohr ernten und nie einen Bleistift in der Hand gehalten hatten?, fragte Amanda. Fast alle Kasernen seien in Schulen verwandelt worden, aber was für Schulen!, höhnte sie. Pseudo-Enthusiasmus wurde belohnt, sorgsames Abwägen wurde gebrandmarkt. Nur ein großes JA wurde akzeptiert, aber auch das sei vielleicht in einem halben Jahr nicht vollmundig genug gewesen. Die neuen Lehrer seien
in den Bergen
ausgebildet worden, das hieß, sie wurden politisch geschult und körperlich ertüchtigt. Nur für ihren Verstand fiel nicht allzu viel Schulung ab; und Didaktik war ein Fremdwort. Charidad, die eifrige Lehrerin an einem Jungengymnasium (das jetzt als eine ehemalige elitäre Bonzenschmiede galt und gründlich „gesäubert“ worden war), mußte sich pausenlos die Haare gerauft haben, das begriff Kornitzer ohne viele Erklärungen von Amanda.
    Auch über die Ziehmutter und den Ziehvater und die Geschwister in dem großen Haushalt in der kleinen Stadt sprach sie mit Wärme. Das war gleich deutlich: Amanda hatte ein großes Herz, in dem viele verschiedene Menschen Platz hatten. Der Ziehvater, erzählte sie, war inzwischen nach Florida emigriert und hatte Arbeit gefunden. Er versuchte, nach und nach die Familie zu sich zu holen (das kam Kornitzer bekannt vor), aber sie, Amanda, hätte, als sie den Plan verstanden hatte, gleich gesagt: Sie möchte nicht nach Florida, sie möchte, nein, sie müsse nach Paris. Warum Paris?, fragte Kornitzer einigermaßen erstaunt. Ich singe, sagte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. Das heißt, du möchtest eine Gesangsausbildung in Paris machen? Sie antwortete nicht direkt. Doch dann platzte es aus ihr heraus: Paris ist die Hauptstadt des Chansons, oder? Das mußte Kornitzer zugeben. Da muß ich hin, sagte sie. (Wieder mit der größten Selbstverständlichkeit.) Sie hatte schon Französisch gelernt – bei einer Nonne mit einer soo großen Flügelhaube, sie breitete die Arme aus, und Richard war überzeugt, daß sie heftig übertrieb.
Ángel de la guarda
, Schutzengel nannte sie die geflügelte französische Nonne zu seiner Überraschung. Manchmal sang die Tochter in ihrem Zimmer, auch auf der Treppe oder in der Küche, die sie gleich in Beschlag genommen hatte. Richard wußte nicht, ob es ihm gefiel oder nicht. Es war machtvoll, ihr Singen füllte das Haus, und das Gefühl, das ihn überwältigte, hatte keinen anderen Begriff als AMANDA SINGT. Ja, es fehlte ihm ein Begriff, eine Beurteilung, aber das machte nichts.
    Kornitzer mußte sie ziehen lassen, wie er Charidad hatte gehen lassen müssen, wie er Selma und George ihren Willen lassen mußte, er hatte schon Erfahrung, und mit dieser Erfahrung fühlte er sich alt. Und während er schlaflos dalag, im Nachbarzimmer die neu gewonnene Tochter, die ihn glücklich machte auf unbestimmte Weise, sagte er sich: Ich bin nach Kuba gegangen und zurückgekommen. Claire ist geblieben, wo sie war, und Charidad ist geblieben, und der Globus hat sich gedreht, und die Zeiten haben sich geändert, und Amanda ist von Kuba nach Europa gekommen, und die Doppelseite aus dem Atlas, die sie mitgebracht hatte in der Handtasche, war gut präpariert. Frankfurt war unterstrichen, und ein wenig westlicher von Frankfurt war in die grüne Grundfarbe des Atlas „Mainz“ geschrieben worden (von Charidad, der gründlichen Geographie-Lehrerin?), und auf der linken Seite des Atlas war noch ein Stück von Frankreich zu sehen, bis Metz etwa, und Paris war abgeschnitten, Amandas Sehnsuchtsstadt, wie auf dem Photo, das Charidad ihm mitgegeben hatte, die Hand, die das kleine Mädchen hielt, abgeschnitten war. Und nun mußte er seine Hand, die er Amanda gereicht hatte, abschneiden, damit sie gehen konnte. Er richtete ein Konto für sie ein, kaufte Schuhe mit ihr, einen seriösen Wintermantel, eine Notentasche und einen lustigen Regenschirm, obwohl sie der Meinung war, in Paris regne es nie. (Sie hatte französische Filme gesehen!) Ein Regenschirm hilft auch gegen zudringliche Männer, erklärte er. Darüber lachte sie unbändig und akzeptierte das sperrige Geschenk.
Ángel de la guarda
, antwortete er auf ihren Heiterkeitsausbruch.
    Auch Goldenberg kehrte Kuba den Rücken, nach 19 Jahren im Lande sah er keinen Sinn mehr in seinen politischen Anstrengungen. Er reiste nach England, schrieb ein brillantes Buch über die kubanische
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