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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung
Autoren: Henry Miller
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Engel weinen zu hören. Keine Zunge regte sich. Bier kalt, Kragen noch schwebend. War gut.
    «Rumeurs des villes, le soir, et au soleil, et toujours.»
    Ja, und immer. Immer ja. Bin hier, war fort, und immer, ja immer der gleiche Mensch, der gleiche Ort, die gleiche Stunde, alles gleich. Immer gleich. Das gleiche Frankreich. Gleich wie welches Frankreich? Gleich wie Frankreich.
    Dann wußte ich, ohne Worte, ohne Gedanken, ohne cadre, genre , Rahmen oder Bezug, oder Rahmen des Bezuges, daß Frankreich war, was es immer ist. Waage, Achse, Stützpunkt. Diese Einheit.
    «Assez connu. Les arrets de la vie.»
    Das Ticken im Herzen einer Uhr, das nie aufhören wird. Der Bogen, der sich nie schließt. Das Summen des Verkehrs in einer Welt ohne Räder. Es gibt keinen Namen dafür, keine Erkennungszeichen. Nicht einmal die Spur der vandalischen Hufe.

Sich, erinnern ist die Sendung des Menschen auf Erden ...
    Warum haben wir nur so schallend gelacht, als dieser Satz aus seinem Mund kam? War es vielleicht, weil er so komisch aussah, als er sprach, den Mund halbvoll und die Gabel wie einen verlängerten Zeigefinger in die Luft gestreckt? War es zu sententiös für diesen ruhigen Regentag, für dieses schmutzige, unauffällige Restaurant am Rande der 13. Arrondissements?
    Erinnern, vergessen; sich für eines entscheiden. Wir haben keine Wahl, wir erinnern uns an alles. Aber zu vergessen, um sich besser zu erinnern, oh! Von Stadt zu Stadt ziehen, von Weib zu Weib, von Traum zu Traum, weder erinnern noch vergessen wollen, sich dennoch immer erinnern und sich doch nicht ans Erinnern erinnern. (Rückblende: Le Cours Mirabeau, Aix-en-Provence. Zwei riesenhafte Atlanten, die Füße im Bürgersteig vergraben, tragen das Gewicht der oberen Stockwerke eines Hauses auf ihren muskulösen Schultern.) Nachts in einer einsamen Stadt im Westen (Nevada, Oklahoma, Wyoming) werfe ich mich aufs Bett, fest entschlossen, mich an etwas Schönes, etwas Vielversprechendes aus der Vergangenheit zu erinnern. Und dann, ohne Grund, einzig aus rein saturnischer Perversität, gellt der herzzerreißende Schrei einer Frau in meinen Ohren: «Mord! Mord! O Gott, Hilfe, Hilfe.» Bis ich auf die Straße gelange, ist das Taxi schon verschwunden. Nur das Echo der Schreie belebt die verlassene Straße.
    Manchmal brauche ich mich nur hinzulegen und schon tauchen die bezauberndsten Szenen wieder auf. Wie Spinnengewebe nehmen sie hinter der Netzhaut Gestalt an. Vom Keller bis zum Dach bin ich ein einziges glitzerndes Gewebe von Zauberbildern. Ich schließe die Augen und lasse mich von ganzen Gedächtnis-Girlanden erwürgen. Ich nehme sie mit nach unten, damit sie von dem tyrannischen Psychopompen Metamorphose neu geordnet werden. Auf diese Weise sah ich Carcassonne, belagert von den Löwen Mykenäs. So traf ich Richard Löwenherz auf der «Schinken-und-Eisen-Messe». Sur un chaland qui passe bemerkte ich le Jongleur de Notre-Dame .
    Erinnern ist die Sendung des Menschen auf Erden. Sich ans Erinnern erinnern. Alles in Ewigkeit kosten, wie einmal in der Zeit. Alles geschieht nur einmal, aber dieses eine Mal für immer. À toujours . Erinnerung ist der Talisman des Schlafwandlers auf dem Boden der Ewigkeit. Wenn nichts verlorengeht, so wird doch auch nichts hinzugewonnen. Nur was dauert ist da. ICH BIN. Das birgt alle Erfahrung, alle Weisheit, alle Wahrheit. Was abfällt, wenn die Erinnerung ihre Türen und Fenster öffnet, hat nie existiert, es sei denn in Angst und Verzweiflung. Eines Nachts, als ich dem Regenprasseln auf dem Blechdach unserer Hütte zuhörte, kam mir plötzlich der Name des Dorfes in den Sinn, in das mich mein erster Ausflug geführt hatte: Ecoute s'il Pleut . Wer würde glauben, daß eine Stadt einen so bezaubernden Namen haben könnte? Oder daß es eine gibt, die Marnes-la-Coquette heißt, oder Lamalou-les-Bains , oder Prats-de-Mollo ? Aber es gibt tausend solcher liebenswerter Namen. Die Franzosen haben ein Genie für Ortsnamen. Darum haben auch ihre Weine so unvergeßliche Namen - Château d'Yquem, Vosne-Romanee, Châteauneuf-du-Pape, Gevrey-Chambertin, Nuits-Saint-Georges, Vou-vray, Meursault und so fort. Vor mir liegt das Etikett einer Flasche, die wir neulich abends in Lucia bei Norman Mini ausgetrunken haben. Es war ein Latricieres-Chambertin aus den Caves des Ducs de Bourgogne, Etablissements Jobard Jeune & Bernard Blawne (Côte d'Or, Maison fondee en 1795 ). Was für Erinnerungen diese leere Flasche weckt. Besonders an meinen Freund Renaud, der
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