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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung
Autoren: Henry Miller
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Ich möchte nur sagen, daß es einen eigentümlich anthroposophischen Geschmack hat, den es dem geliebten Edgar Voicy und dessen Lehrmeister Rudolf Steiner verdankt. Es enthält ein Einschiebsel von drei Seiten, ganz auf französisch, dessen Grundgedanke vielleicht der Satz « l'orgasme est l'ennemi de l'amour » erahnen läßt.
    Aber noch ein anderer und wichtigerer Satz findet sich darin, der zwei- oder dreimal wiederholt wird: «Sich erinnern, ist die Sendung des Menschen auf Erden ...» Es ist einer von den Sätzen wie «der Zweck heiligt die Mittel». Er sagt nur denen etwas, die auf das Stichwort warten.
    Jetzt sitze ich im Restaurant. Die Zubereitung des Essens ist scheußlich: es soll wohl Bordelaise sein. In Wirklichkeit aber könnte kein Feinschmecker unter gastronomischen Gesichtspunkten Epoche oder Gegend bestimmen. Sogar die Pasteten sind gefälscht. Die Hausmarke heißt Dyspepsie.
    Es muß im Jahre 1942 gewesen sein, als ich mir dieses scheußliche Essen einverleibte. Meine Augen verschlangen die wohlvertrauten Eisenbahnplakate. - La Corrèze, Quimper, Lourdes, Le Puy ... Ich hatte ein gut Teil von Amerika bereist und hungerte und dürstete nach Ich-weiß-nicht-was. Es war, als sei ich gerade aus Timbuktu zurückgekehrt, der erste weiße Mann, dem es gelungen war, lebend dort herauszukommen, nur daß ich von nichts anderem zu erzählen wußte als von Eintönigkeit, Sterilität und Langeweile. Ich hatte in diesem Restaurant schon oft gegessen, hatte die gleichen Eisenbahnplakate schon viele Male gesehen, und das Essen, obwohl schlecht, war nicht schlimmer, als es immer gewesen war. Plötzlich war alles verwandelt.
    Da waren nicht länger Eisenbahnplakate, sondern eindringliche Bilder eines Landes, das ich kannte und liebte, Souvenirs einer Heimat, die ich gefunden und wieder verloren hatte. Plötzlich waren Hunger und Durst gestillt. Plötzlich wurde mir klar, daß ich zwanzigtausend Meilen in der falschen Richtung gereist war.
    Mein Blick wandte sich immer tiefer nach innen; alles war in den goldenen Schein der Erinnerung eingetaucht. Le Roussillon, das ich nie besucht hatte, wurde zur Stimme Alex Smalls, der in der Brasserie Lipp am boulevard Saint-Germain saß. Wie Matisse war er in Collioure gewesen und hatte von dort Atmosphäre, Duft und Farbe mitgebracht. Zu jener Zeit war ich eben dabei, Paris zum erstenmal zu verlassen - mit dem Fahrrad. Zadkine hatte auf der marmornen Tischplatte eine große Skizze des Weges gezeichnet, dem meine Frau und ich folgen mußten, um an die italienische Grenze zu gelangen. Gewisse Städte durften wir, seiner Meinung nach, auf keinen Fall übersehen. Ich erinnere mich, daß eine davon Vézelay war. Aber hatte er auch Vienne erwähnt? Ich weiß es nicht mehr. Vienne steht mir lebendig vor Augen, in Dämmer gehüllt; das dröhnende Rauschen eines Baches hämmert mir noch immer in den Ohren. Dort müssen die Annamiten einquartiert gewesen sein; es waren die ersten, die ich in Frankreich sah. Wie seltsam kam mir die französische Armee in jenen Tagen vor. Sie schien mir aus Kolonialtruppen zu bestehen. Ihre Uniformen fesselten mich, besonders die der Offiziere.
    Ich folge einem Annamiten die dunkle Straße entlang. Wir haben gegessen und sehen uns nach einem ruhigen Café um. Wir betreten eines der hohen Cafés, wie man sie oft in der Provinz antrifft. Sägemehl bedeckt den Boden, und der saure Geruch des Weines ist durchdringend. In der Mitte des Raumes steht ein Billardtisch; zwei elektrische Birnen hängen an langen Schnüren von der Decke und beleuchten das grüne Tuch. Zwei Soldaten beugen sich über den Tisch, einer in der Uniform der Kolonialtruppen. Die ganze Atmosphäre des Ortes erinnert an das Werk van Goghs. Sogar der dickbauchige Ofen ist da, mit dem langen, gebogenen Rohr, das mitten durch die Decke verschwindet. Das ist Frankreich, vielleicht von seiner unscheinbarsten Seite, ein winziges Stück nur, das aber, auch in einer alten Weste verborgen, nichts von seinem Geschmack einbüßt.
    In Frankreich gibt es immer Soldaten. Und gewöhnlich sehen sie verloren und verlottert aus. Es ist immer Abend, wenn ich sie bemerke; entweder beim Verlassen der Kaserne oder wenn sie dorthin zurückkehren. Sie sehen aus wie geistesabwesende Gespenster. Manchmal bleiben sie vor einem Standbild stehen und starren es mit leerem Blick an, während sie in der Nase bohren oder sich den Hintern kratzen. Man würde nie glauben, was für eine starke Armee sie darstellen, wenn alle
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