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Küstenfilz

Küstenfilz

Titel: Küstenfilz
Autoren: H Nygaard
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es
gut war, wenn die Fahrgäste in ihrem Zug die abenteuerliche Konstruktion und
das gähnende Loch im Gleiskörper nicht registrierten. Vielleicht würde mancher
von ihnen das Überqueren dieses Bauwerks nicht mehr nur als interessanten
Aussichtspunkt auf der Reise gen Norden ansehen, sondern dabei auch ein
mulmiges Gefühl im Magen verspüren.
    Lüder reduzierte sein Tempo ebenfalls. An dieser
Stelle wäre es lebensgefährlich, auf den regennassen Schwellen auszugleiten.
Wenn man zur Seite rutschte, bedeutete das den Absturz. Sosehr ihm daran
gelegen war, den flüchtigen Verbrecher zu verfolgen, so war er weit davon
entfernt, sein eigenes Leben leichtfertig zu riskieren. Im Dämmerlicht war
nicht erkennbar, wie weit die Baustelle reichte. Kummerow war fast an der
Stelle angelangt, wo das Viadukt in die massige Brückenkonstruktion überging,
die den Kanal überspannte und unter der eine der wenigen Hängefähren der Welt
die Menschen von Ufer zu Ufer transportierte.
    Durch den Regenschleier sah Lüder in der Ferne ein
Licht, das langsam wuchs und sich zu drei Lichtpunkten erweiterte. Es war
zweifelsfrei das Spitzensignal eines Zuges. Lüder hielt an. Es war kaum
möglich, in der Dunkelheit ein Signal zu geben, das den Lokführer zum Halten veranlassen
würde. Der Mann im Führerstand hatte keine Chance, die beiden für ihn
unerwartet auftauchenden Menschen auf der Brücke zu erkennen.
    Außen am Gleis führte ein schmaler Steg entlang, der
durch ein rostiges Gitter gesichert war. Wenn man sich eng an das Geländer
klammerte, das breite Lücken aufwies, konnte man möglicherweise dem Zug
ausweichen. Dank der Baustelle war die Bahn so langsam, dass man nicht durch
den Sog des vorbeifahrenden Zuges mitgerissen wurde.
    Das Licht näherte sich unaufhaltsam. Kummerow wankte
dem Zug immer noch auf dem Gleis entgegen. Er musste ihn auch bemerkt haben.
Offenbar wollte er noch Distanz zwischen sich und Lüder schaffen, bevor auch er
sich an auf den schmalen Steg neben dem Gleis flüchtete. Lüder rutschte erneut
weg, tastete nach dem Metall, stolperte und fiel. Er stieß gegen die mittlere
Querstrebe des Geländers. Dabei rutschte sein Oberkörper über das scharfkantige
Metall, und er sah hinab in den gähnenden Abgrund. Einen Moment blieb er
benommen in dieser Position. Der schrille Pfeifton der Bahn riss ihn zurück. Er
wurde sich bewusst, dass er quer zur Fahrtrichtung lag und seine Unterschenkel
noch auf dem Gleis waren. Mühsam zog er sich am Geländer hoch. Er umklammerte
das feuchtkalte Metall und krallte sich daran fest. Dann warf er einen Blick in
Richtung Brücke.
    Mit Entsetzen sah er, dass Kummerow bis zuletzt
gezögert hatte, sich vor dem Zug in Sicherheit zu bringen. Der Mann wich der
Bahn aus, indem er erst in letzter Sekunde zur Seite hetzte. Niemand würde je
erfahren, warum er nicht den schmalen Steg wählte, auf dem Lüder jetzt kauerte,
sondern sich für die andere Seite entschied, auf der das Gegengleis fehlte.
    Mit heftig rudernden Armen verschwand der Mann in der
Tiefe.
    Funkensprühend rutschten die rot lackierten Wagen der
Regionalbahn, die von einer Lokomotive am Ende geschoben wurden, an Lüder
vorbei. Auf den glitschigen Schienen war der Zug auf dieser Distanz nicht zum
Halten zu bringen. Lüder spürte den Luftzug, hörte das Kreischen der
blockierenden Räder und klammerte sich verzweifelt am Geländer fest. Noch nie
in seinem Leben hatte er so viel Angst und Entsetzen verspürt.
Merkwürdigerweise schossen ihm in Bruchteilen von Sekunden Bilder durch den
Kopf. In Großaufnahme tauchten die Gesichter der Mitglieder seiner
Patchworkfamilie vor ihm auf. Wie Spots, die zu rasant geschnitten waren,
sausten Erlebnisse aus seinem Leben vorbei, so, als hätte jemand die bildhaften
Memoiren eines Lebens in zwei Sekunden zusammengefasst. Dann war es vorbei. Der
Zug hatte die Stelle passiert, an der er sich immer noch bewegungsunfähig ans
Geländer krallte. Gut fünfzig Meter hinter ihm war die Bahn zum Stehen
gekommen. Lüder sah, wie sich die Schiebefenster öffneten und Leute neugierig
ihren Kopf herausstreckten. Einige verschwanden ebenso schnell wieder ins
Waggoninnere. Das lag sicher nicht nur am Wind und am Regen. Jetzt öffnete sich
auch eine Wagentür. Lüder vermutete, dass es der Schaffner war. Doch der Mann
war klug genug, nicht auszusteigen.
    Vorsichtig löste sich Lüder vom Geländer. Mit
unsicheren Schritten wankte er auf das rote Licht zu, das das Ende des Zuges
markierte. Dabei vermied
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