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Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer

Titel: Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer
Autoren: Wladimir Kaminer
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verkaufen und ins Ungewisse ziehen. Der Druck war groß, die Zeit knapp. Nachts wurde geschossen, tagsüber verhandelt. Ende Juli verließ die Familie meiner Schwiegermutter ihre Heimatstadt Grosny mit einem gemieteten Lastwagen – sechs Frauen im Laderaum, ein Mann am Steuer. Sie fuhren nach Russland, in das kaukasische MineralnieWodi-Gebiet. Dort hatten sich schon früher Flüchtlinge aus Tschetschenien angesiedelt, größtenteils Kosaken, um unter russischer Flagge ein neues Leben in der Steppe zu beginnen.
    Die einheimischen Bauern beobachteten die Neuankömmlinge mit Misstrauen. Alle Welt wusste doch, dass Kosaken keine Ahnung von Landwirtschaft haben. Aber diese halfen sich untereinander. Noch bevor sie anfingen, Häuser zu bauen, pflanzten die geflüchteten Kosaken Bäume. Ihren Garten in Grosny mit den hundertjährigen Bäumen vermissten sie besonders. Also pflanzten sie erst einmal einen Nussbaum, eine Fichte, einen Kirschbaum und einen Aprikosenbaum.
    Zum Glück war 1992 kein besonders heißer Sommer, und es regnete alle zwei Tage. Die Familie legte ein Beet mit Dill, Petersilie und Lauch an und konnte alle zwei Wochen eine kleine Ernte einfahren. Bis Mitte Oktober verkaufte sie die Kräuter am nahe gelegenen Bahnhof für fünfzig Rubel das Bündel. Von dem Geld wurden warme Semmeln mit Kartoffeln zu je zweihundertfünfzig Rubel und billige Fischkonserven gekauft: »Strömling in Tomatensauce«. Damit ernährten sie sich in der ersten Zeit. Die warmen Semmeln am Bahnhof schmeckten gut, das neue Leben schien langsam zu funktionieren. Sie waren fast glücklich.
Von dem Rest des Geldes kauften sich die Kosaken noch ein paar Pflaumenstecklinge auf dem Markt.
    Die Bauern aus dem Dorf lachten über diese Baumleidenschaft. Von solchen Projekten hielten sie nichts. Sie selbst hielten Schweine, hunderte von Hühnern und oft auch noch ein paar Kühe. Diesen Aufwand konnten sich die Kosaken nicht leisten. Man brauchte dafür einen Zugang zum Futterlager der Rinderkolchose »Iljitschs Vermächtnis«, die sieben Kilometer vom Dorf entfernt langsam vor sich hin siechte. Also konzentrierten sich die Kosaken auf Gemüse.
    Der kaukasische Lehmboden erwies sich als nicht sonderlich fruchtbar. Die Hitze riss den trockenen Boden auf, und das Wasser verschwand in Erdritzen. Die Kartoffeln wurden vom Coloradokäfer so stark angefressen, dass man auf drei Kilo eingepflanzte Kartoffeln nur zwei Kilo erntete. Der Wind brachte Unkraut, und von früh bis spät hockten die Kosaken auf ihren Beeten in der berühmten Unkrautbekämpfungsposition: Kopf unten, Hintern hoch. Erdbeeren, Tomaten, Paprika, Gurken – alles, was der Kartoffelkäfer nicht geschafft hatte, ernteten die Kosaken. Parallel dazu wurde das Haus gebaut. Vom Bauwagenleben hatten bereits alle die Nase voll. Silvester 1993 war das Haus fertig. Die Familie zog um, und der Hund Big Bill, der aus Grosny mitgekommen war, sowie zwei Katzen ohne Namen, die aus dem Dorf stammten, zogen mit.
    Im darauf folgenden Frühling kaufte die Familie bei einem Geflügelzüchter im Dorf auf Kredit zwei Gänse und zwei Dutzend Hühner. Sie rentierten sich aber alle nicht. Die Gänse liefen ständig weg, die eine wurde dann von Big Bill, die andere von einem kaukasischen Geier gefressen. Mit dem restlichen Geflügel war es umgekehrt: Keiner wollte die Hühner umbringen. Die Kinder fingen sofort an zu weinen, wenn jemand aus der Familie mit einem Messer auf den Hof ging. Also starben die Hühner langsam an Altersschwäche. Die Bauern im Dorf lachten sich tot. »Kein Wunder, dass die Tschetschenen euch verjagt haben!«, lästerten sie.
    Nach einigen Jahren wurden sie aber neidisch. Während sie mit ihren Schweinen und Hühnern immer noch in der Steppe lebten und von Wind und Sonne ausgetrocknet wurden, genossen die Kosaken das Leben in einer Oase. Der lehmige kaukasische Boden war zwar schlecht für Kartoffeln, aber sehr gut für Bäume aller Art. Sie wuchsen wie verrückt. Aus einem Nussbaum wurden vierundfünfzig Nussbäume. Die Aprikosen-, Pflaumen- und Kirschbäume bildeten zusammen einen kleinen Garten Eden in der Steppe. Inzwischen sind sie schon zwölf Jahre alt. Die Kosaken trinken selbst gemachten Pflaumenwein und backen Nusstorten. Mittlerweile gedeihen auch die Weinreben im Garten. Fast alle im Dorf ernähren sich selbst, nur einmal in der Woche fährt einer in die Stadt auf den Markt, um Mehl und Kartoffeln für alle zu besorgen. Die restlichen Lebensmittel werden entweder selbst
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