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Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer

Titel: Kuche Totalitar - Wladimir Kaminer
Autoren: Wladimir Kaminer
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herkamen. Es interessierte aber auch niemanden sonderlich. Die nationalen Hintergründe zählen in der Gegend nicht, sondern nur Fleiß und Mut.
    Der russische Süden war schon immer relativ dünn besiedelt, dort fanden noch im siebzehnten Jahrhundert flüchtige Wehrpflichtige, Andersgläubige und Rebellen aller Couleur Unterschlupf. Mit der Auflösung der Sowjetunion zerfielen hier auch die vielen Kollektivwirtschaften, die Mais- und Sonnenblumenfelder verwilderten und wurden von Unkraut überwuchert. Auf den Weideplätzen grasten keine Pferde und Kühe mehr. Und dann passierte das, was immer in solchen Fällen passiert: Die flüchtigen Völker trafen auf verlassenes Land.
    Die Neuankömmlinge wurden natürlich von den Einheimischen geprüft. Die Hoffnung auf leichte Beute stirbt auch im Kaukasus nie aus. Bei den Kosaken aus Tschetschenien ging es ganz schnell. Die einheimischen Nachbarn kamen eines Abends, um den Neuen ihre Jagdgewehre zu präsentieren. Die Kosaken zeigten ihrerseits stolz, was sie aus Grosny mitgebracht hatten: AK74, Vollautomatik, sechshundert Schuss pro Minute. Sie redeten noch ein wenig über das Wetter und die Aussichten auf eine gute Ernte, schließlich wünschten sie sich gegenseitig ein friedliches Leben und gingen auseinander. Auch die Armenier wurden respektiert, und die Kurden zogen irgendwann weiter.
So lebten sie in der Steppe, Sowjetunion hin oder her – es gab für alle viel Platz und wenig Staatsgewalt.
    Dann eines Tages, Mitte der Neunzigerjahre, kamen die Chinesen. Diese Völkerwanderung brachte sogar die gelassensten Kaukasier etwas aus der Fassung. Von den Chinesen hatte man hier bisher nur aus dem Fernsehen gehört, wenn mal wieder davon berichtet wurde, dass sie im fernen Osten und in Sibirien bereits große Territorien Russlands bevölkerten. Oft illegal eingereist, gründeten sie in der Taiga Landkommunen, hackten Holz und verkauften es nach China. Die rechten russischen Zeitungen schlugen Alarm: »Unser geliebtes Vaterland wird von China überrannt!« Im Süden machte man aber eher Witze darüber: »Wir werden hier schon über die Runden kommen, zumindest bis die Chinesen kommen«, hieß es ironisch im Volksmund. Gemeint war ewig. Aber plötzlich waren sie da.
    Die Chinesen pachteten die ehemaligen Sonnenblumen- und Maisfelder, versumpften den Boden mit Wasser und pflanzten Lauch und Reis an. Die chinesischen Lauchzwiebeln waren mustergültig groß und wurden gern auf den Märkten gekauft. Die Einheimischen schimpften über sie. Das Wasser in der Gegend ist salzig und mineralhaltig, die Erde, die mit solchem Wasser verseucht wird, bringt zwei bis drei Jahre eine gute Ernte, ist aber danach für mehrere Jahrzehnte unfruchtbar.
    »Die verfluchten Chinesen versauen unseren ganzen Boden!«, regten sich die Einheimischen auf. »Sie haben überhaupt keinen Bezug zu dieser Erde.« Die Chinesen wollten aber auch keinen Bezug zu ihr entwickeln. Sie pachteten einfach ein neues Stück Land, wenn das alte nichts mehr hergab, ansonsten schufteten sie hart auf ihren Feldern – zwanzig Stunden am Tag, fleißig, alles per Hand ohne jegliche Technik. Von den Jagdgewehren der Einheimischen zeigten sie sich auch unbeeindruckt. Inzwischen ist die chinesische Gemeinde im Nordkaukasus eine feste Größe. Legal oder illegal, oft mit einem Pass für zwanzig Mann, leben sie dort. Und wenn die Ordnungshüter bei den neuen Pächtern vorbeischauen, werden sie mit Geld oder Waren geschmiert.
    Nach einer Weile konnten die meisten anderen Völker sich mit den Chinesen vertragen. Nur die Russen schimpfen. Weil die Chinesen ihre kurze Freizeit anscheinend nicht nur zum Schlafen und zur Erholung nutzen: Nach jeder Pachtsaison werden in den russischen Dörfern mehr chinesische Kinder geboren, im Volksmund werden sie liebevoll-rassistisch »Schlitzäuglein« genannt.

Fünf Hühner im Schmand
    1992 eskalierte in Tschetschenien der nationale Konflikt. Der frisch gewählte Präsident Dudajew rief die Unabhängigkeit Tschetscheniens aus, und es häuften sich Überfälle auf die russische Bevölkerung. Am Anfang waren es noch Einzelfälle. Man erzählte einander gruselige Geschichten, wie der Freund eines Freundes, der am anderen Ende der Stadt lebte, mitsamt seinem Haus von den Tschetschenen angezündet wurde, weil er nicht ausziehen wollte. Im Sommer rieten sogar die gemäßigten Tschetschenen ihren russischen Nachbarn, so schnell wie möglich abzuhauen. Die Russen mussten ihre Häuser praktisch für nichts
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