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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel
Autoren: Sabine Bode
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Anna, extreme Schuldgefühle auszuhalten, die immer dann auftauchten, wenn sie sich wie eine erwachsene Frau verhielt und nicht wie eine kleine Tochter. Es war ein Prozess des »learning by doing«. Nach und nach verringerte sich ihr schlechtes Gewissen, und ihre Entscheidungen gewannen an Souveränität. »Genauso stark wie vorher die Symbiose war, ist jetzt die Distanz«, stellt sie fest. »Früher habe ich mich nach jedem Telefonat mit ihr [287] restlos ausgepowert gefühlt. Heute weiß ich auch, was so anstrengend war: Ich wollte sie erreichen, ich wollte sie emotional berühren, und das gelang mir so gut wie nie.« Im Grunde sei sie ihrer Mutter genauso hinterher gelaufen, wie diese – eine Generation früher – ihrer eigenen Mutter.
    »Ich hab mich mein Leben lang abgestrampelt, um bei ihr eine Lücke zu füllen – es wird mir nie gelingen«, sagt Anna. »Seit ich aufgehört habe, unsere Beziehung mit Substanz zu füllen, ist nichts mehr da.« Es kommt nur noch zu einem oberflächlichen Austausch. Ob es der Mutter reicht? Schon möglich, meint Anna. Jedenfalls rufe sie von sich aus nie an. Sie melde sich auch nicht bei ihrem Sohn, um sich nach dem Enkel zu erkundigen.
    Beide Seiten, Tochter und Mutter, zeigen sich nur noch mäßig aneinander interessiert. Es sieht so aus, als sei ein einseitig belastetes Beziehungssystem endlich ins Gleichgewicht gekommen. Anna Behrend sagt, es ginge ihr gut damit, sie fühle sich erleichtert. Das merke sie jedes Mal, wenn sie mit ihrer Mutter telefoniere. Sie fühle sich nicht mehr wie ausgesaugt. Auch das Verhältnis zum Vater hat sich verändert. Sie sind sich etwas näher gekommen. Als Naturwissenschaftler entdeckten sie ein gemeinsames Interesse an Fragen der Ethik. Kürzlich besuchten sie zusammen ein internationales Symposium in London. Anna Behrends Fazit: »In meinem tiefsten Innern liebe ich meine Eltern trotzdem, und ich weiß, dass sie ihr Bestes gegeben haben. Das ändert aber nichts daran, dass es für mich einfach nicht genug war und bei weitem nicht das, was ich gebraucht hätte. Im Unterschied zu Jochen habe ich überhaupt nicht das Gefühl, ich muss dankbar sein und meinen Eltern etwas zurückgeben. Ich weiß allerdings nicht«, räumt sie ein, »was mal wird, wenn sie pflegebedürftig sein sollten.«

[289] Vierzehntes Kapitel
    DIE PERSPEKTIVE EINES KRIEGSKINDES

[291] Mutter-Sohn-Beziehung
    Am Schluss möchte ich einen Perspektivenwechsel vornehmen: von den Kriegsenkeln zu den Kriegskindern. Stellvertretend kommt Gabriele Heinen* zu Wort, Pfarrerin, 1942 geboren. Ihre Geschichte konzentriert sich auf die Beziehung zu ihrem Sohn Bastian*. Seit ihrem Ruhestand lebt sie mit ihrem Mann wieder in der Landschaft ihrer Kindheit, in der holsteinischen Schweiz. Wie bei vielen Kriegskindern wirkt das Gesicht der 67-Jährigen überraschend jung. Nur beim Lesen braucht sie eine Brille. Dazu kommt eine immer noch robuste Gesundheit, an der sie nicht ganz unbeteiligt ist, da sie bis heute jeden Tag einige Kilometer läuft. Gabriele Heinens hochgestecktes Haar ist dezent braun gefärbt, gerade genug, um das Grau zu verdecken.
    Während unseres Gesprächs trägt sie einen Jogginganzug und Laufschuhe. Sie will danach noch eine Runde um einen wunderschön gelegenen See drehen. Auf dem Tisch neben meinem Aufnahmegerät liegt ihr MP3-Player. Sie hört Rockmusik beim Joggen. »Eine Probe gefällig?«, fragt sie und hält mir die Kopfhörer hin: »Sympathy for the Devil« mit den Rolling Stones. Sie lacht über mein ungläubiges Gesicht und meint: »An der Musik unserer jungen Jahre hängen wir ein Leben lang.«
    Und dies sind ihre Lebensstationen: in Pommern auf die Welt gekommen, Flucht, Kindheit in Schleswig-Holstein, Abitur, Studium der Theologie in Tübingen, Gemeindepfarrerin in einer mittelgroßen Stadt in Niedersachsen. Auch sie, die zu den Kriegskindern gehört, die noch relativ gut davon gekommen waren – die Flucht verlief vergleichsweise friedlich –, machte einschneidende Erfahrungen, die sie nur scheinbar verkraftete: der Verlust von engen Verwandten und der vertrauten Umgebung [292] als Kleinkind, bittere Not, Kälte und Diskriminierungen während des Überlebenskampfes im Westen, eine auf vielfache Weise überforderte Mutter, eine zerstrittene Verwandtschaft und Großeltern, die ihre Enkel mit Schlägen straften, dazu Vaterlosigkeit bis zu ihrem 10. Lebensjahr. Den Vater schildert sie als einen durch seine Verstrickung in die NS-Zeit und die
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