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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel
Autoren: Sabine Bode
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Haus verließ. »Es war einfach nie gute Stimmung, solange meine Eltern sich gemeinsam unter einem Dach aufhielten«, versucht sie das Klima in ihrem Elternhaus zu beschreiben. »Ich glaubte natürlich meiner Mutter, die mir eintrichterte, ohne den Vater wäre die Welt in Ordnung; ohne ihn könnten wir zu dritt endlich in Frieden leben. Jeden zweiten Tag gab es einen Riesenkrach, wenn er von der Arbeit heimkam, weil Mutter seiner Meinung nach nicht genügend im Haushalt tat. Damals verstand ich natürlich noch nicht, wie aktiv meine Mutter an der Atmosphäre von gegenseitiger Entwertung und Feindseligkeit beteiligt war.«
    Warum verließ die Mutter ihn nicht? Seit 1977 hätte sie dank des neuen Ehe- und Familienrechts gehen können, ohne dass ihr wegen »böswilligen Verlassens« der Unterhalt hätte verweigert werden können. Warum also blieb sie bei einem Mann, der – wie sie ständig äußerte – eine einzige Enttäuschung für sie gewesen sein muss? War sie depressiv, frage ich nach. Nein, sagt Anna, depressiv nicht, sondern verbittert. Der Traum ihrer Mutter sei vermutlich ein völlig unrealistischer gewesen: der Traum von einem Märchenprinzen, der immer gut gelaunt ist, der sie verwöhnt, der sie auf Händen trägt. Stattdessen: »Ich kenne keinen liebevollen Kontakt zwischen meinen Eltern. Vater wurde immer als der alleinige Bösewicht dargestellt. Man kann sich heute nur wundern, dass die Ehe gehalten hat.«
    Der Vater, fährt Anna fort, habe ihren Bruder über Jahre mit Schlägen zu erziehen versucht – dessen Weinen habe sie noch heute im Ohr. Das Schlimmste war für sie, dabei zu stehen und den Bruder nicht schützen zu können. Sie selbst wurde nicht geprügelt, denn ihre Mutter hatte gedroht: »Wenn du dieses Kind schlägst, dann gehe ich!« Warum sie nicht auch ihrem Sohn auf diese Weise beistand, weiß Anna nicht. Sie selbst sei [283] immer sehr brav und pflegeleicht gewesen, schildert sie sich als Kind. Sie habe mit 9 Monaten laufen gelernt, mit 12 Monaten sei sie sauber gewesen. Ihr Bruder dagegen habe in derselben Altersspanne gebrüllt wie am Spieß, und noch Jahre später sei er ein großer Verweigerer gewesen, wenn es ums Essen ging.
    Als Schülerin war Anna für ihre Mutter die beste und treueste Haushaltshilfe. Als erste stand sie morgens auf, machte Frühstück und weckte die Mutter mit einer Tasse Kaffee am Bett. Sie übernahm das Waschen und Bügeln, denn sie wollte ihre Mutter schützen, indem sie den Vater besänftigte. Je ordentlicher es im Haushalt aussah, desto weniger Wutausbrüche. Annas Beziehung zu ihm war denkbar schlecht. Sie sah sich als hundertprozentige Verbündete ihrer Mutter, die den Kontakt ihrer Tochter zum Vater in jeder Situation zu verhindern wusste.
    Führen Sie das Leben Ihrer Mutter?
    Die Ärztin erinnert sich noch genau an den Moment, als sie während einer Therapiestunde mit der Frage konfrontiert wurde: »Führen Sie eigentlich Ihr eigenes Leben oder das Ihrer Mutter?« In diesem Zusammenhang lernte sie einen Fachbegriff aus der Psychologie kennen: Sie war als Tochter »parentifiziert«. Die Generationsgrenzen stimmten nicht. Die Rollen waren vertauscht. Anna hatte früh die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Mutter übernommen. Sie fühlte mit der Mutter, sie litt mit ihr. Als Jugendliche war sie deren einzige Vertraute gewesen, denn Helga Behrend hatte keine Freundinnen. Alle persönlichen Probleme, auch Details ihrer Sexualität, breitete sie vor der Tochter aus. Erst vor wenigen Jahren begriff Anna, in welchem Ausmaß sie überlastet worden war. Zum Beispiel ist ihr klar geworden: »Beim Kuscheln ging es nie um mich, sondern darum, dass Mutter meine Nähe brauchte. Nicht [284] ich wurde getröstet, sondern ich habe sie getröstet. Ich bin von ihr psychisch missbraucht worden.«
    Seit endlich ein Enkelkind da ist, seit ihr Bruder Vater wurde, hat Anna noch eine weitere Entdeckung gemacht: Die Mutter fordert ständig, sie wolle das Baby auch mal ganz für sich allein haben; sie versteht nicht, wieso Sohn und Schwiegertochter keinen Drang haben, abends ins Kino zu gehen oder Freunde zu treffen. »Das sagte Mutter bereits, als das Kind drei Wochen alt war«, erinnert sich Anna. »Aber wenn ich sie bei meinem Bruder in der Wohnung traf, zeigte sich, dass sie sich überhaupt nicht mit dem Säugling beschäftigte, es sei denn, sie konnte ihn füttern. Gab es nichts mehr zu tun, wurde sie nach zwei Minuten unruhig. Sie wollte ihr Enkelkind dann nicht länger
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