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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel
Autoren: Sabine Bode
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Redebedürfnis muss enorm gewesen sein. Sie hätten es überhaupt nicht ausgehalten zu schweigen, handelte es sich doch um Vorgänge, die auch bei den Tätern alle Dimensionen des bisher Erlebten sprengten.
    Was bedeutet das Schweigen in der Familie?
    Die Enkeltochter möchte herausfinden: Was genau waren die Aufgaben ihres Großvaters? Bei welchen Massenmorden an Juden war er möglicherweise Zeuge? Hatte seine Einheit vielleicht sogar mit Munition ausgeholfen? Hatte sie nach der jeweiligen Besetzung eines Ortes Listen mit den Namen der jüdischen Bewohner zusammengestellt und sie der nachrückenden SS und dem Sicherheitsdienst übergeben? – Das Wehrmachtsarchiv wird ihre Fragen nicht beantworten. Aber Anna Behrend geht davon aus, dass sie präzise Anhaltspunkte über die gesamte Militärlaufbahn ihres Großvaters erhalten wird, auf deren Basis sie weiter recherchieren kann. Im Grunde lautet ihre Frage: Was bedeutet das Schweigen in unserer Familie? Welche Geheimnisse, welche Schrecken, welche Schande soll es verdecken? Welche Bilder wurde der Großvater Zeit seines Lebens nicht mehr los – und was davon ist an ihren Vater weitergegeben worden? Sie möchte wissen, warum in Teilen der engen Verwandtschaft mit dem Thema deutsche Schuld so zynisch umgegangen wurde.
    An dieser Stelle unseres Gesprächs fällt mir im Kontrast dazu eine völlig andere Geschichte ein. Mir hat einmal eine Angehörige der Kriegskindergeneration erzählt: »Papa hatte Heimaturlaub und sprach mit dem Opa. Die Tür war nur angelehnt und ich habe gelauscht. Der Papa sagte, es gäbe in Russland riesige [278] Gruben, da würden Mütter und Väter erschossen und deren Babys einfach hinterher geworfen. Und dann haben der Papa und der Opa lange miteinander geweint.«
    Es geht Anna Behrend bei ihren Recherchen nicht um das Nachweisen und Anprangern von Schuld. Sie will herausfinden, durch welche Einflüsse sie untergründig geprägt wurde. Sie sucht nach Erklärungen für ihre Unsicherheit, ihre leicht zu irritierende Wahrnehmung, ihre Blockaden.
    Ähnlich wie bei ihrem Lebensgefährten Jochen hat ein Elternteil von Anna den Bombenkrieg erlebt und der andere den Verlust der Heimat und die Flucht. Der Unterschied ist nur: Ihre Eltern sind acht Jahre jünger als Jochens. In der Zeit, als sie heranwuchsen, wusste man noch wenig über die seelische Verletzbarkeit von Kleinkindern. Man hielt sie für ungemein robust. Allgemein war man der Auffassung, Kleinkinder würden so gut wie nichts in sich aufnehmen – selbst wenn sie durch die Hölle gingen –, und sie würden zum Glück schnell wieder vergessen.
    Forschungsprojekte nach dem 11. September 2001
    Heute ist die Trauma- und Bindungsforschung an einem völlig anderen Punkt angelangt. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Anschläge des 11. September 2001 in New York, weil hier – eine Ausnahmesituation – die Überlebenden einer kollektiven Katastrophe optimal betreut und behandelt werden konnten. Auf der einen Seite herrschten kriegsähnliche Verhältnisse, auf der anderen Seite befand sich in kürzester Zeit ein Heer versierter Retter und Helfer im Einsatz, wie es nur in Friedenszeiten möglich ist. Die Arbeit in den Stationen der Katastrophenhilfe ist gut dokumentiert, auch die Traumabehandlungen. Sie geben Auskunft darüber, was Kindern, die extrem erschüttert wurden, hilft, um seelisch wieder ins Gleichgewicht [279] zu kommen. Die Antwort ist eindeutig: Kinder brauchen stabile Erwachsene, die sich ihnen mit Geduld und Einfühlungsvermögen zuwenden.
    Dem Kinderpsychiater Desmond Heath zum Beispiel war es wichtig, in einer Hilfsstation einen »sicheren Ort für Kinder« einzurichten, genannt »Kid’s Corner« (Kinderecke) 21 . Man schuf eine beruhigende Umgebung, die es Kindern erlaubte, zu spielen, zu malen oder, wenn ihnen danach war, über die Ereignisse zu sprechen. An einem Nachmittag kam ein Mann mit seiner Tochter ins »Kid’s Corner«. Er hatte als Koch im World Trade Center gearbeitet, nun stand er ohne Verdienst da. Während die Kleine spielte, wollte er einen Berater für Entschädigungsfragen aufsuchen. Nachdem der Vater den Raum verlassen hatte, fing Marie, ein Kind im Vorschulalter, sofort an zu malen, und zwar in kräftigen Rot-, Gelb- und Schwarztönen. Sie erklärte dazu, dies seien Gebäude, die »umfielen und verbrannten«. Marie sagte, das kenne sie aus dem Fernsehen. Ihr Dad hätte dort gearbeitet und sei gerade noch herausgekommen, bevor die Gebäude
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