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KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Titel: KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Autoren: Martin Bleif
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Schwärze der Krankheit als kontrastierende Folie zu nutzen und so die lichten Momente des Lebens mit der Krankheit umso heller wahrzunehmen. Eine Sache war ihr daher sehr wichtig: Sie wünschte auch mir über ihren Tod hinaus die Chance, ein anderes, intensiveres und unmittelbareres Leben zu leben.
    Jeder Mensch ist seine Welt.
Diese Welt stirbt mit ihm – unwiderruflich und unwiederbringlich. Damit stößt der Trost an seine Grenzen. Krebs ist die Wunde, die nicht heilen kann . Der Tod der Liebsten aber ist eine Wunde, die nicht heilen soll . Die Erinnerung an den Schmerz und an den Tod ist nicht nur quälend. Sie ist auch heilsam und notwendig. Der Schmerz ist der Preis dafür, dem Leben eine neue Qualität abgewinnen zu können. Die Erinnerung immunisiert nicht zwangsläufig gegen jeden Rückfall in die Welt kleingeistiger Sorgen und aufgeschobener Gelegenheiten. Aber wer sie zulässt, verfügt damit über ein mächtiges Instrument, seine Maßstäbe wieder ins Lot zu rücken, wenn diese Maßstäbe unter dem erodierenden Einfluss des manchmal grauen Tagesgeschäfts in Schieflage zu geraten drohen.
    Begriffe wie Trauerarbeit, Trauerzeit und Bewältigung sind mir ein Gräuel, machen sie doch glauben, Gefühle ließen sich reparieren, um dann weiterzuleben wie zuvor. Solch eine »Reparatur« ist in meinen Augen weder möglich noch erstrebenswert. Denn so ein Leben wäre nur um den Preis vollständiger Amnesie zu haben.
    Mit der Zeit verändert sich die Trauer
– natürlich. Die Bilder verblassen, und sie verschieben sich, verschwinden aber nicht – zum Glück. Diese Erfahrung habe ich nicht allein gemacht. Der Psychiater Gordon Livingston verlor innerhalb von 13 Monaten zwei seiner Kinder, den Ältesten durch Selbstmord, denjüngsten durch die Leukämie. Auch er hat »wie alle, die Ähnliches erlebt haben, […] das Wort Trauerjahr […] hassen« gelernt, »mit dem ja stillschweigend gesagt wird, dass Trauer etwas Begrenztes ist.« 21 Auch er empfindet den Gedanken, die Geliebten irgendwann nicht mehr zu vermissen, als obszön. Und es ist mehr als das: Wäre eine Rückkehr zum Status quo möglich, so hätte der Tod den letzten Sieg davongetragen, und Imogen wäre vollständig aus meinem Leben gelöscht.
    Imogens Vermächtnis bleibt.
Der Tod ist ein ungeheures, übermächtiges Ereignis, schrecklich und im wahren Sinn des Wortes: unfassbar. Ist es möglich, die Gewalt der Erschütterung zu nutzen, um ein Leben näher an den wirklichen Zielen zu leben? Die Vorstellung, dass ich und unsere kleine Tochter Lina ein gutes Leben leben würden, war Imogen ein großer und tiefer Trost.
    »Was wir als Hoffnung ansehen, ist dies: dass die Menschen, die wir verloren haben, eine Liebe in uns wach werden ließen, die wir uns gar nicht zugetraut hätten. Und diese bleibende Veränderung ist ihr Vermächtnis. Uns obliegt es nun, diese Liebe jenen entgegenzubringen, die uns noch brauchen.« 22 Es ist an uns, die auf der Welt geblieben sind, dieses Vermächtnis zu nutzen.
    In den frühen Morgenstunden des 15. März des Jahres 2010
starb Imogen in meinen Armen. »Worüber man nicht reden kann, davon soll man schweigen.« 23 Ich greife diesen Satz Wittgensteins nicht nur deshalb auf, weil er aus dem Mund eines Philosophen, dessen Werkzeug das Wort und dessen Profession die Rede ist, bescheiden und weise zugleich klingt.
    Der Wunsch, der Tod sei nicht das Ende, sondern eine Metamorphose, ist eine der beiden großen Quellen aller Weltreligionen. Die Selbstgewissheit des Gläubigen ist mir verwehrt. Ich weiß nicht, was kommt und was bleibt, und tröste mich mit dem Gedanken, dass die Grenzen des Wissens nicht die Grenzen der Welt sind. Mir versagt die Stimme; daher lasse ich ein Gedicht sprechen:

Ihr steht an meinem Grabe:
    Hier bin ich nicht.
    Ich bin im lauen frischen Sommerwind
    Ich bin im süßen schweren Blumenduft.
    Ich bin mit den Vögeln hoch in der Luft
    Im Sonnenstrahl, im Mondenschein,
    im kühlen Wasser; im ruhenden Stein,
    im Gleichklang der bunten Schmetterlings-Schwingen,
    im Grillenzirpen, im Drosselsingen,
    im Glanz der Sterne, im Morgenlicht.
    Ihr sucht mich an meinem Grab: Hier bin ich nicht. 24
    Mehr habe ich nicht zu sagen.

Anmerkungen

Informationen zum Autor
    © Marijan Murat
    Martin Bleif hat Medizin studiert, ist derzeit Privatdozent an der Klinik für Radioonkologie am Universitätsklinikum Tübingen. Seine Frau Imogen, bei der 2008 Brustkrebs diagnostiziert wurde, starb am 15. März 2010 in Tübingen.
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