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KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Titel: KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Autoren: Martin Bleif
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im wöchentlichen Tatort zelebrierte Tod. Wir sehen zu, unterhalten uns und gehen danach wieder zur Tagesordnung über. Diese Art der Wahrnehmung, vermittelt durch das Fernsehen und andere Formen der medialen Aufarbeitung, verwischt weit die Grenzen zwischen dem literarischen Tod, der Kopfgeburt eines Roman- oder Drehbuchautoren und den Ereignissen in der realen Welt.
    Tritt aber der unheimliche Krebs in unser Leben,
rückt der Tod, der wirkliche, plötzlich wieder ganz nahe, zu nahe, verdichtet sich und zeigt sich als das, was er ist. Dieses Gefühl will ich nicht in dürre Prosa übersetzen. Daher haben ich mir Rilkes Zeilen geliehen:

    Der Tod ist groß.
    Wir sind die Seinen,
    lachenden Munds.
    Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
    wagt er zu weinen
    mitten in uns. 19
    Der Tod wird wieder als das wahrgenommen, was er ist: ein gewaltiges, außerordentliches Ereignis, bestimmender als alles, was uns im Leben bisher begegnete, weil es übermächtiger ist als das Leben selbst.
    Mein trügerisches Gefühl der Sicherheit klarer Grenzen ging schon am ersten Tag von Imogens Krankheit ein für allemal in die Brüche. Ein launischesSchicksal hatte die Medaille unseres Lebens mit einem Mal gedreht, und ich bekam die Kehrseite der Krankheit zu Gesicht.
    Wer Krebs hat, steht dem Tod gegenüber.
Selbst wer dem Krebs entkommt und ins Leben zurückfindet, hat die verborgene »Nachtseite des Lebens« 20 erblickt. Viele Menschen haben Krebs und Tod in ihren Vorstellungen fast gleichgesetzt, und das, obwohl die Mehrheit der Krebserkrankungen heute geheilt werden können. Der ominöse Ruf, der dieser Krankheit immer noch vorauseilt, tut dazu sein Übriges. Der Gedanke an den Tod ist also präsent. Umso schlimmer, wenn die Kranken mit ihm alleingelassen werden.
    Selbst wenn der Krebs weit fortgeschritten ist und keine Hoffnung auf Heilung besteht, kreisen die Gespräche zwischen Arzt und Patient viel öfter um die Krankheit, ihre Symptome, die Probleme, die sie verursacht, als um das eigentliche Problem, das Sterben und den Tod. Viele Ärzte wagen es nicht, dieses Thema anzuschneiden, weil sie befürchten, ihre Patienten zu verunsichern. Vielleicht haben sie zum Tod auch wenig zu sagen, haben sich zu selten mit ihm auseinandergesetzt, obgleich er ihnen immer wieder begegnet. Für Ärzte ist es verlockend, sich auf medizinische Probleme zurückzuziehen. Medizinische Etappensiege sind wichtig, und Optimismus kann Lebensqualität bedeuten.
    Aber fast jede unheilbare Krebserkrankung
kommt zu dem Punkt, an dem der Körper eindeutige Signale sendet und ein Krebskranker seine Hoffnung nicht mehr mit seiner Wirklichkeit zur Deckung bringen kann. Für den Arzt und mehr noch für den Partner des Kranken ist es wichtig, diesen Punkt zu antizipieren und zu erkennen. Der Kranke erlebt diese Situation ambivalent. Angst ist die hässliche Schwester der Hoffnung. Und Hoffnung ist für den Krebskranken nur im Duett mit dieser unsäglichen Schwester zu haben. Stirbt die Hoffnung, zieht sich paradoxerweise manchmal auch die Angst schlagartig zurück und hat einen schwereren Stand.
    Mitte Februar 2010 hatte die Krankheit Imogen so viel von ihrem Körper geraubt, dass sie merkte, ihr weiterer Weg werde sie nicht ins Leben zurückführen, nicht einmal mehr für ein kurzes Intermezzo. Sie zeigte mir deutlich, dass sie sich vollkommen darüber im Klaren war, dass ihr Tod unmittelbar bevorstand. Alles Hadern hatte damit ein Ende. Sie war jetzt die Seine, wenn auch nicht lachenden Mundes. Sie hielt ihn immer noch für einen seltsamen Dämon, aber sie besaß die Größe, mir klar zu machen, dass sie vor dem Tod keine Angst mehr hatte. Sie war sogar in einem gewissen Sinn lebenssatt. Daswar für mich nicht nur ungeheuer beruhigend. Es bot uns die Chance eines Abschieds, der nichts unerledigt ließ.
    Die letzten zwei Wochen ihres Lebens
verbrachte sie im Bett, das wir mitten in unser Wohnzimmer geschoben hatten. So konnte die späte Wintersonne auf ihre Decke scheinen, und sie war der Mittelpunkt ihrer Familie, umgeben von mir, ihren Eltern und Geschwistern und natürlich unserer kleinen Tochter. Sie konnte nicht mehr aufstehen, weil eine Metastase in ihrem Hirnstamm die Nervenbahnen, die die Muskulatur der Beine ansteuern, zerstört hatte. Aber sie war bis zu ihrem letzten Abend bei vollem Bewusstsein. Wir haben oft und selbst noch in dieser Zeit über die positiven Seiten unseres Lebens mit dem Krebs geredet. Tatsächlich hatte Imogen die Gabe entwickelt, die
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