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KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Titel: KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Autoren: Martin Bleif
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und erlauben ihm, nachdem schließlich alles gesagt ist, wieder rasch zum Tagesgespräch überzugehen.
    Krebs, dieser ungebetene Dritte
, drängt sich aber auch in die vertrautesten Partnerschaften und verwandelt die Qualität dieser Beziehungen. Viele Partnerschaften habe ich erlebt, die diese Belastung nicht ausgehalten haben und am Krebs zerbrochen sind.
    Das Gefühl bedingungsloser Solidarität ist ein typischer erster Reflex. Dieser Anspruch wird oft erhoben, scheitert aber sehr schnell an der Realität. Viele Beziehungen zerbrechen, weil sich die Beteiligten nicht eingestehen, dass der Krebs sie zwingt, ihre über die Jahren stabilisierte Harmonie der Zweierbeziehung völlig neu einzustellen. In langjährigen Partnerschaften stellt sich und spielt sich mit den Jahren ein subtiles und individuell sehr unterschiedlich austariertes, mehr oder weniger flexibles Gleichgewicht von Geben und Einfordern, Dominanz und Unterwerfung, Streben nach Autonomie und Bedürfnis von Zweisamkeit ein. Sich an veränderte Verhältnisse anzupassen scheint vor allem den Partnern schwerzufallen, die über die Jahre rigid fixierte Rollen kultiviert haben und nicht mehr dynamisch zwischen den Polen hin und her wechseln können.
    Die Krankheit kann Abhängigkeit verstärken – objektiv, weil der krankePartner pflegebedürftig wird und nicht mehr sein gewohntes Leben leben kann –, aber auch subjektiv, weil die Situation den Kranken dazu treibt, plötzlich ein Maß der Fürsorglichkeit einzufordern, das er oder sie vorher nie in Anspruch genommen hätte.

Über den Abschied und das Sterben

    »Drei Tage entsetzlicher Qualen und darauf der Tod. Kann nicht etwas Ähnliches jetzt gleich oder in jedem Augenblick auch mir drohen?«, dachte er und hatte eine Minute hindurch Angst. Doch da kam ihm, er wusste selber nicht, wie, plötzlich der gewohnte Gedankengang zu Hilfe, das dieses ja nur dem Iwan Iljitsch zugestoßen sei und keineswegs ihm selber, und dass ihm so etwas nie zustoßen dürfte und wohl auch nicht könnte: und dass er, indem er solchen Gedanken nachhinge, sich einer finsteren Stimmung hingäbe, was zweifellos nicht nötig sei, wie es Schwarzens Antlitz auf das Augenscheinlichste bewies. Nachdem Pjotr Iwanowitsch diese Betrachtungen beendet hatte, beruhigte er sich dabei und begann sich voller Interesse nach den Einzelheiten von Iwan Iljitschs Tod zu erkundigen, so, als wäre das Sterben ein Abenteuer, das nur in Iwan Iljitschs Natur liegen konnte, nicht aber in seiner.« 18
    Auch ich war ein Pjotr Iwanowitsch
– bis meine Frau an Krebs erkrankte. Diese Form des gespaltenen Bewusstseins mag ein klassischer Schutzreflex von Ärzten sein, die tagtäglich mit Todkranken zu tun haben. Bis zum 10. April des Jahres 2008 waren in meinem Kopf die Rollen klar verteilt: Die Patienten sind krank. Zu einer zweiten Kategorie von Menschen gehören die Ärzte. Ihre Aufgabe ist es, sich um die Kranken zu kümmern. Für die Onkologen ist der Krebs wie eine Gedenkmedaille; sie leuchtet an der Wand, an der sie tagtäglich vorübergehen. Jede Verästelung ihrer Gravur glauben sie in- und auswendig zu kennen. Was den Ärzten aber weitgehend verborgen bleibt, ist die Kehrseite der Medaille, der Blick in die Seele hinter die Krankheit. Gerade weil Krebs für sie kein Ausnahmezustand, sondern Teil der alltäglichen Routine ist, wird er nicht zum Memento mori .
    Diese Form des Umgangs
mit der Möglichkeit des eigenen Todes ist aber nicht allein eine professionelle Deformation von Medizinern. Jeder Menschweiß, dass am Ende seines Lebens der Tod steht. Trotzdem spaltet ihn das Alltagsbewusstsein ab und transferiert ihn in eine Welt, die Äonen entfernt und nichts mit dem Leben auf der Erde zu tun zu haben scheint. Hierzulande vollzieht sich das Sterben meistens streng von der normalen Lebenswelt getrennt. Die wenigsten Menschen sterben zu Hause im Kreis ihrer Familie. Der Tod geschieht diskret und in aller Stille hinter den Mauern von Krankenhäusern, Hospizen und Altenheimen, in Parallelwelten, die kaum ein in der Mitte des Lebens Stehender je betreten hat.
    Noch stärker abstrahiert und dadurch zur Unkenntlichkeit verfremdet wird der Tod durch die Medien. Dieser Tod, das ist der Terroranschlag in Kabul, ein Erdbeben in Japan, die Cholera in Haiti, der Hunger in Somalia, oder – wenn es hart kommt – ein Amoklauf an einer schwäbischen Realschule. Endgültig zur Fiktion mutiert und zur Kunstform erhoben wird der jeden Sonntagabend nach der Tagesschau
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