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Krank (German Edition)

Krank (German Edition)

Titel: Krank (German Edition)
Autoren: Jack Kerley
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normal große Nase operativ entfernt und nur ihre Spitze wieder angenäht. Seine Augen waren hellgrau und seine Lippen so dünn, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie ein Lächeln formen sollten. Sein stattlicher Bauch quoll über den breiten Polizeigürtel, an dem allerlei Gerätschaften hingen. Er trug Alligator-Cowboystiefel, eine großkalibrige Pistole mit langem Lauf, wie sie früher im Wilden Westen gebräuchlich gewesen war, und eine Uniform, die dringend hätte gebügelt werden müssen.
    Sein Begleiter war das optische Gegenteil: ein schlanker, großer Mann älteren Semesters in einer grünen Uniform, die aussah, als hätte er sie erst vor zehn Minuten aus der Reinigung geholt. Es dauerte eine Sekunde, bis ich schnallte, dass es sich um einen Forest Ranger handelte. Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Lippen, sein sonnengebräuntes Gesicht war zerfurcht und grob. Er beugte sich zurück, um die Wirbelsäule zu strecken, doch ich bemerkte, wie er mit auf Halbmast gesenkten Lidern die Umgebung musterte. Sehr interessant.
    Der Cop ging zu Pete und Gary, um mit ihnen zu reden. Ich machte mich wieder daran, die Seile aufzuwickeln, und beobachtete alles aus den Augenwinkeln. Der Ranger nickte den beiden Lehrern zu, ehe er sich an den Stamm einer Hemlocktanne lehnte, vor sich hin pfiff und den sandigen Boden studierte.
    Als ich meinen Blick hob, merkte ich, dass mich der Sheriff kalt und abschätzig musterte, als fände er mein Verhalten unverschämt. Ich tat so, als wäre mir nichts aufgefallen, und verstaute mein Seil im Wagen. Beim Umdrehen beobachtete ich, wie der Ranger mit der Beiläufigkeit eines geübten Müllsammlers einen Streifen Aluminium aufhob, ihn in die Tasche steckte, noch einmal zu Boden sah und schließlich zu seinem Geländewagen zurückkehrte.
    Ich wusste, was er da eben getan hatte, und dass es nichts mit der Rettung der Natur zu tun hatte.
    »Sheriff Beale«, rief der Ranger.
    Der Cop drehte sich um und schob den Hut in den Nacken. »Was?«
    »Wir sind hier fertig.«
    Der große Sheriff warf mir einen weiteren kritischen Blick zu, nickte und folgte dem Ranger. Sie stiegen in das Fahrzeug, der Ranger setzte sich hinters Steuer und fuhr an. Als die beiden Männer an mir vorbeirollten, lächelte ich dem Fahrer zu.
    »Zu dumm, dass Sie keine Schuhabdrücke gefunden haben, was?«
    Zwei Sekunden lang blickten wir uns in die Augen, dann gab er Gas, und der SUV rumpelte davon. Ich warf ein anderes Seil in den Kombi zu der Ausrüstung der restlichen Kletterschüler. Sie fuhren mit den Lehrern ins sechs Meilen entfernte Pine Ridge zurück, wo sich die Zentrale der Kletterschule befand. Da meine Unterkunft nicht weit von unserem Übungshang lag, war ich mit meinem eigenen Fahrzeug gekommen.
    Ich warf einen letzten Blick auf die Felswand und dachte kurz darüber nach, wie weit ich es wohl aus eigener Kraft nach oben schaffen konnte, bevor die Vernunft siegte und ich in meinen Pick-up stieg. Ich warf einen Blick aus dem Fenster und überlegte, ob es eine seltsame Fügung, das Schicksal oder schlicht und einfach Glück gewesen war, das mich an diesen wunderbaren Ort gebracht hatte.
    Nach meiner Unterhaltung mit Lieutenant Mason hatte ich daheim einen Stapel Reisebroschüren gewälzt, die ich über die Jahre in Rasthäusern aufgelesen hatte. In den meisten Prospekten wurden Orte wie Branson, Orlando und Gatlinburg angepriesen, die viel Unterhaltung boten und mir den Angstschweiß auf die Stirn trieben. Just in dem Moment, als ich mit dem Gedanken spielte, mir Mix-up zu schnappen und so ziellos wie John Steinbeck durchs Land zu fahren, läutete das Telefon.
    »Mr. Ryder? Hier ist Dottie Fugate von RRG Cabin Rentals aus Kentucky. Haben Sie Lust auf einen kleinen Urlaubstrip?«
    »Ich, ähm … wie bitte?«
    »Sie sind doch vor einer ganzen Weile bei uns zu Gast gewesen, oder?«
    Als ich sieben Jahre alt war, hatte meine Familie vier Monate lang in der Gegend gelebt. Wir waren meinem Vater hinterhergezogen, der sich als Ingenieur und Brückenbauer verdingte. Und zwanzig Jahre später war ich, bevor ich meinen Dienst in Mobile antrat, für ein Wochenende dorthin gefahren, um mich zu sammeln und einem klaren Kopf zu kriegen. Durchaus möglich, dass ich damals bei Dottie Fugate übernachtet hatte.
    »Ist neun Jahre her, dass ich in Ihrer Ecke war, Miss Fugate. Wie lange bewahren Sie denn Ihre Unterlagen auf?«
    Sie lachte. »Bei uns kommt nichts weg. Jahr für Jahr werfen wir alle Gästeanmeldungen
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