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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hast niemandem den Kopf abgesägt. Was denkst du denn? Du bist ein guter Junge.«
    »Nein«, erwidert er.
    »Doch«, sage ich und sehe ihn streng an. Ich bin die Ältere und darüber wird nicht weiter diskutiert. »Du hast eine Schlaftablette bekommen, da träumt man anders.«
    »Wirklich?«
    Ich nicke. Er grübelt, dann umarmt er mich und weint vor Erleichterung. Ich drücke ihn an mich. Obwohl ich nicht sicher bin, das Richtige zu tun, ist es schön, ihn so glücklich zu sehen. Als sei ihm wirklich ein Stein vom Herzen gefallen. Zur Sicherheit bitte ich ihn aber trotzdem, Vater und Mutter nichts zu erzählen. Sie machen sich nur Sorgen, wenn er solche unheimlichen Dinge träumt, und glauben es am Ende noch. Er verspricht es.
    »Und die Sache mit Birthe, ist die auch nicht passiert?«
    »Doch, leider. Du hast sie mit einem Messer verletzt, aber sie wurde genäht, die Wunde wird verheilen.«
    »Sind Mutter und Vater böse auf mich?«
    »Nein, nicht mehr. Wir sitzen nett beieinander. Willst du mitkommen?«
    Ich gebe ihm die Hand und wir gehen zusammen ins Wohnzimmer. Meine Eltern unterhalten sich vertraut auf dem Sofa. Als sie uns sehen, strecken sie die Hände nach Jacob aus und ziehen ihn zwischen sich. Ob Vater und Mutter sich wieder liebhaben, will er wissen.
    »Na ja, liebhaben ist vielleicht zu viel gesagt«, lacht Mutter.
    »Aber wenigstens gute Freunde?«
    »Das sind wir, ja«, bestätigt sie, »aber das waren wir immer, du kleines Plappermaul.«
    Jacob lächelt glücklich und will wissen, ob nun alles wieder wird wie früher. Sie nicken zögernd und murmeln, ja sicher, nur etwas anders, natürlich. Sie sind noch immer getrennt, und daran wird sich auch nichts ändern, aber die Scheidung ist ja noch nicht amtlich. Wir werden sehen. Auf jeden Fall sind sie wieder Freunde, und wir können uns hin und wieder treffen und eine schöne Zeit miteinander verbringen.
    Ich nippe an meinem Glas und betrachte sie. Nett sehen sie aus. Mutter schlägt vor, dass ich mich zu ihnen aufs Sofa setze. Aber ich möchte nicht. Ja, nett sehen sie aus, aber irgendwie auch falsch. Wie eine Collage, die von mir stammen könnte: Die Darstellung einer glücklichen Familie ‒ ohne dass es wirklich so wäre. Was ist eigentlich nicht in Ordnung? Jetzt sehe ich es. Ihre Köpfe sind vertauscht. Vaters Kopf sitzt auf Mutters Hals und umgekehrt, und mein Kopf sitzt auf Jacobs Hals. Lustig sieht es aus, aber auch erschreckend. Wie so viele Dinge, denke ich. Ich drehe mich zum Fenster, um zu sehen, ob Jacobs Kopf tatsächlich auf meinem Körper sitzt, doch etwas ganz anderes lenkt meine Aufmerksamkeit ab, ja, haut mich geradezu um.
    »Was ist denn los?«, erkundigt sich Mutter. »Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
    Genau so ist es. Ich sehe Anders’ Eltern auf das Haus zuwanken. Seine Mutter geht voran und kann sich kaum auf den Beinen halten, der Vater folgt ihr. Auf der Terrasse sinkt sie auf die Knie. Unsere Blicke begegnen sich, ein paar Sekunden sehen wir uns an. Dann fällt sie wie in Zeitlupe vornüber, mit offenen Augen. Merkwürdigerweise ist sie beinahe verschwunden, als sie auf dem Terrassenboden liegt. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um sie sehen zu können. Ihr Körper verschmilzt mit dem hölzernen Terrassenboden, ihre Rückenpartie ist ganz flach und weiß. Als ihr Mann sich über sie beugt, wird er ebenso flach und auch sein Rücken wird weiß. Beide sehen sie aus, als hätte man sie aus einer Fotografie geschnitten!
    Ich ziehe die Gardine vor.
    Meine Eltern wollen wissen, was ich draußen gesehen habe und warum ich die Gardine vorziehe, aber ich starre nur auf die Gardine und bringe kein Wort heraus.
    Vater zieht die Gardine wieder auf. Ich wende mich ab und schlage die Hände vor die Augen ‒ ich will nichts damit zu tun haben. Doch Vater sagt nichts. Und weder klopft jemand an die Scheibe, noch klingelt es an der Tür.
    Mutter kommt ebenfalls dazu, auch sie schaut hinaus und sagt zunächst kein Wort.
    »Was soll da draußen denn sein?«, fragt sie dann.
    »Da ist nichts, Emilie«, sagt Vater. »Hast du zu viel getrunken?«
    Natürlich, denke ich erleichtert. Das muss es sein. Ich bin nicht gewohnt zu trinken, außerdem bin ich furchtbar müdeund habe Angst. Ich nehme die Hände von den Augen und falle Mutter fast in die Arme. Zu meiner Erleichterung sehe ich, dass ihr Kopf auf ihrem eigenen Körper sitzt, auch Vater und Jacob sehen wieder normal aus. Ich solle zu Bett gehen, sagt sie, es
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