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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Paradies.«
    »Ach ja? Das verlorene Paradies. Und wie sieht er jetzt aus?«, will Mutter wissen.
    Er antwortet nicht, sondern macht ein so trauriges Gesicht, dass Mutter sofort ein schlechtes Gewissen bekommt.
    »Ich hatte noch nicht die Zeit und die Muße, mich um den Garten zu kümmern, und ehrlich gesagt weiß ich auch gar nicht genau, wie ich es anstellen soll.«
    Er fängt an, eine Menge lateinischer Begriffe herunterzuhaspeln; es geht so schnell, dass Mutter und ich überhaupt nicht kapieren, dass er über die Büsche und Bäume im Garten redet. Äste müssen abgesägt, Bäume beschnitten werden, außerdem gibt es Pflanzen, die dringend Wasser benötigen, um zu überleben. Überhaupt müssten wir dem Garten viel mehr Aufmerksamkeit schenken, wenn er gedeihen soll. Das Wort Aufmerksamkeit verwendet er mehrfach mit besonderem Nachdruck. Er ist zutiefst betrübt über den Zustand des Gartens, das ist ihm anzuhören. Wenn er über den Garten redet, klingt seine Stimme beinahe so, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen.
    »Mein Gott«, stöhnt Mutter. »Die ganzen Namen, die du hier aufzählst, die kenne ich überhaupt nicht.«
    Er versucht es noch einmal, nun mit den lateinischen Bezeichnungen, aber das macht es nicht besser. Sie unterbricht ihn und schlägt vor, in den Garten zu gehen. Dort könne er ihr zeigen, was er meint.
    »Aber es ist dunkel«, wende ich ein.
    »Nein, es ist noch hell genug, es ist Sommer«, widerspricht Mutter und geht voran. Sie wartet nicht einmal ab, was er davon hält. Er schaut mich mit einem Seitenblick an, den ichnicht richtig interpretieren kann, und folgt ihr. Möchte er, dass ich mitkomme? Ich bleibe auf dem Sofa sitzen. Wenn ich mich ein wenig zurücklehne, kann ich sie durchs Fenster beobachten. Sie gehen umher, er zeigt auf bestimmte Blumen und Bäume und redet. Mutter nickt eifrig und tut so, als würde sie sich alles ganz genau einprägen. Aber ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie überhaupt nicht zuhört. So, wie sie mit den Händen durch ihr langes dunkles Haar streicht und den Hintern herausstreckt, weiß ich genau, was sie vorhat. Denn so ist meine Mutter: Erst schlägt sie einen Mann bewusstlos, der so jung ist, dass er ihr Sohn sein könnte, und hinterher flirtet sie hemmungslos mit ihm.
    Endlich kommen sie zurück. Es ist zu dunkel, erklärt Mutter, und der Garten ist groß. Außerdem ist ihr ganz wirr im Kopf von all dem, was sie gehört hat. Hoffentlich hat sie bis morgen nicht die Hälfte wieder vergessen. Ärgerlich, dass nicht mehr Zeit bleibt. Ich tue so, als würde ich mich auf den Krimi konzentrieren. Oder ist es die Liebesgeschichte? Ich glaube, ich habe noch einmal umgeschaltet. Aber es ist auch nicht so einfach, wenn die Liebesgeschichte der unheimlichere Film ist.
    »Ich fahre dich gern zum Bahnhof«, schlägt Mutter vor. »Allerdings fürchte ich, dass heute Abend kein Zug mehr fährt.«
    »Doch, der Nachtzug«, rutscht es mir heraus.
    »Bist du sicher? Wann?«
    Ich habe keine Ahnung, aber das lässt sich ja herausfinden. Mutter hat vorhin angeboten, ihn zum Notarzt zu fahren, also könnte sie ihn doch auch nach Hause bringen? Doch sie hat andere Pläne.
    »Du kannst aber auch gern hier übernachten«, bietet sie ihm an. »Wir haben ein Gästezimmer. Dann kannst du morgen früh weiterfahren.«
    Ich traue meinen Ohren nicht. Sie will einen wildfremden Mann in unserem Haus übernachten lassen? Wir wissen nichts über ihn, vielleicht ist er aus einem Gefängnis oder einer psychiatrischen Anstalt geflohen, es könnte sich um einen Mörder oder Vergewaltiger handeln, was denkt sie sich bloß? Zum Glück scheint er von ihr genug zu haben. Er bedankt sich für das Angebot, muss es aber leider ablehnen, er will nicht zur Last fallen. Trotzdem versucht Mutter, ihn zu aufzuhalten, nun unter dem Vorwand, dass wir ihm doch etwas schulden, so wie er von uns behandelt wurde.
    »Zum Teufel, hör auf, ihn unter Druck zu setzen, Mama. Hörst du denn nicht, dass er gern nach Hause möchte?«
    Beide lachen beschwichtigend, und mir ist es unangenehm, einen so scharfen Ton angeschlagen zu haben.
    »Es gibt keinen Grund zu fluchen«, erklärt Mutter und setzt sich an den Wohnzimmertisch. Er sagt nichts und sieht sich im Wohnzimmer um, als hätte er uns vergessen. Schließlich setzt er sich Mutter gegenüber. Sie setzen ihre Unterhaltung fort, nun geht es um die Hauseinrichtung.
    Er erzählt in allen Details, wie die Möbel standen, als er noch hier wohnte.
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