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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Unglaublich, wie gut er sich daran erinnern kann. Er behauptet, der Platz sei damals besser genutzt worden, Mutter widerspricht ihm nicht. Seine Stimme wird ganz sanft, als er von seinem Kinderzimmer spricht, und wie er oft am Fenster gesessen und die Aussicht auf das verlorene Paradies genossen hat. Mutter erwidert lächelnd, dieses Zimmer sei jetzt das Gästezimmer. Er freut sich, und ohne ein weiteres Wort stehen beide auf und machen sich auf den Weg dorthin. Ich folge ihnen, halte mich aber im Hintergrund.
    Obwohl das Zimmer total verändert ist, kommen ihm beim Wiedersehen beinahe die Tränen. Dieser Mann scheint ständig den Tränen nahe, er tut mir beinahe leid. Er setzt sich sofort aufs Fensterbrett und zieht die Beine an. So habe er hier immer als Junge gesessen, sagt er. Die Aussicht ist dieselbe, wenn auch der Garten damals anders aussah.
    Sein Blick wird leer. Mutter schließt die Tür bis auf einen Spalt und flüstert mir zu: »Wir sollten ihn jetzt ein bisschen allein lassen.« Wir gehen zurück ins Wohnzimmer. Sie öffnet eine Flasche Wein und schenkt zwei Gläser ein. Ich könne mir gern eine Limonade holen, sagt sie. Als hätte ich nie Wein probiert; ich bin vierzehn Jahre alt und habe schon stärkere Sachen getrunken. Mutter geht mir auf die Nerven, wenn sie sich so benimmt. Gibt es denn etwas zu feiern? Wieso lässt sie ihn nicht einfach gehen? Jetzt tritt sie auch noch vor den Spiegel, richtet ihren BH und zieht sich die Lippen nach. Hat sie überhaupt kein Gefühl für die Situation? Irgendwie muss ich verhindern, was sich hier anbahnt. Ich hasse es, wenn sie sich selbst zum Narren macht.
    »Mama?«
    »Ja, mein Schatz?«
    »Wie läuft’s denn mit dem Artikel, den du bis morgen abliefern musst?«
    »Dem Artikel? Ach, ja. Den schreibe ich morgen Vormittag zu Ende.«
    Mutter arbeitet in einem Zentrum für Frauen- und Genderforschung und schreibt für deren Webmagazin. Normalerweise nimmt sie ihre Artikel nicht so leicht, schon gar nicht am Abend vor der Deadline. In der Regel ist sie nervös und sitzt bis tief in die Nacht am Computer.
    »Worum geht’s darin?«
    Sie schaut mich an. »Um häusliche Gewalt, wieso?«
    »Na ja, du könntest doch auch über Frauen schreiben, die Männer schlagen, oder? Heute Abend hast du einen Mann k.o. geschlagen, und jetzt soll er plötzlich hier schlafen. Wirklich, das solltest du thematisieren. Lass es doch mal ein bisschen persönlich werden.«
    Ich finde meinen Vorschlag gut, aber sie hat im Augenblick andere Dinge im Kopf. Sie zuckt nur die Achseln, zumal in diesem Moment unser Gast aus seinem alten Kinderzimmer zurück ist und sich neben sie setzt. Sie reicht ihm ein Glas, sie prosten sich zu und trinken. Ich bin verblüfft, dass sie so schnell zum gemütlichen Teil übergehen. Jetzt lacht er sogar über ihre Witze. Vielleicht ist er aber auch nur höflich, es ist schwer zu sagen. Nachdem sie sich eine Weile unterhalten haben, setzen sie sich mit ihren Gläsern zu mir und wollen wissen, was für einen Film ich mir ansehe. Ich bin auf die Frage nicht gefasst und blamiere mich, als ich sage, der Film sei unglaublich spannend –denn als ich die Handlung erzählen will, bringe ich Krimi und Liebesfilm durcheinander. Sie nicken bloß höflich und gucken mit.
    »Na, schon ziemlich spät, oder?«, sagt Mutter, als der Film endlich zu Ende ist. Ich denke im ersten Moment, sie meint unseren Gast, aber sie sieht mich dabei an.
    Normalerweise entscheide ich selbst, wann ich ins Bett gehe, vor allem während der Sommerferien. Und jetzt werde ich ins Bett geschickt wie ein kleines Kind. Nichts deutet darauf hin, dass er heute noch aufbricht. Was zum Teufel findet er an meiner Mutter? Sie dürfte ungefähr zwanzig Jahre älter sein als er, und nüchtern ist sie auch nicht mehr. Ihre Stimme klingt verwaschen und ständig will sie ein Haar oder sonst etwas von seinem Hemd entfernen, nur um ihn berühren zu können. Das ist alles so durchsichtig. Ihm scheint es allerdings zu gefallen. Vielleicht ist es am besten, wenn ich in mein Zimmer gehe, ich kann ohnehin nichts mehr verhindern. Diesem Treiben will ich jedenfalls nicht länger zusehen. Also gebe ich Mutter recht – es sei wirklich schon spät – und gehe die Treppe hinauf ins Badezimmer.
    Beim Zähneputzen ziehe ich die Gardine des kleinen Fensters zur Seite. Auf der anderen Straßenseite wohnt Frau Larsen, sie ist einundneunzig und braucht einen Rollator. Ihr gehört das Haus, das wir gemietet haben. Als ihr Mann vor
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