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Komm her, Kleiner

Komm her, Kleiner

Titel: Komm her, Kleiner
Autoren: Lola Lindberg
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sie am liebsten zurufen würde: „Wenn du jetzt schon so verkrampft bist, dann hilft auch das bisschen Spitze und Spandex nichts mehr, Mutti!“). Dazwischen nicht minder gestresste Verkäuferinnen, die sich mit versteinerten Gesichtern selbst einen hohen Umsatz und den Kundinnen einen langsamen Tod wünschen.
    Es ist noch einmal gutgegangen.
    Langsam setzt sich Katharina in Bewegung. Na also, geht doch – immer schön einen Fuß vor den anderen, locker, unauffällig. Auf jeden beiläufigen Betrachter muss sie wirken wie eine gepflegte, aber unauffällige Frau Mitte dreißig, die gedankenverloren ihren letzten Weihnachtseinkäufen nachgeht. Niemand spürt den flatternden Vogel, der sich so kaum beruhigen will, oder ahnt, dass Katharinas Gesicht nicht ob der Vorfreude auf das abendliche Fest glüht, sondern dass es das Zeugnis ihrer Angst vor Entdeckung ist.
    Hätte jemand Katharina genauer angesehen, wäre ihm trotzdem nichts weiter aufgefallen als eine mittelgroße, schlanke Frau, das braune Haar sorgfältig zu einem Knoten im Nacken geschlungen, einen kurzen Mantel über dem schlichten Kostüm. Auch die übergroße Einkaufstasche, auf der ein angesagter Designername protzt, gehört in diesen Tagen zur Grundausstattung der kaufwütigen Konsumenten. Katharina verschmilzt mit der Menge, lässt sich von ihr davontragen.
     
    Sie sitzt an der schmucken Espressobar des Kaufhauses und nippt an ihrem Kaffee, der alt und nach Dosenmilch schmeckt. Sie hat ihre Fassung wiedergefunden und beobachtet nun unauffällig die Menge um sich herum.
    Weihnachten. Das Fest der Liebe. Katharina kann ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken. Was sie hier sieht, hat wenig mit einem Fest zu tun, und auch auf Liebe wäre sie kaum gekommen: abgehetzte Menschen in schwitzigen Klamotten, die sich einen Weg durch die überfüllten Gänge des Konsumtempels bahnen. Die Luft, warm und abgestanden wie der Kaffee, lastet schwer auf den roten Gesichtern und in sich zusammenfallenden Frisuren.
    Nur noch schnell eine Kleinigkeit kaufen.
    Nur noch das Teil für wen auch immer finden.
    Und überall dieser gestresste Blick: Warum passiert das gerade mir?
    Katharina stellt sich diese Frage nicht. Sie weiß, warum sie hier ist. Nicht, dass sie noch ein Geschenk braucht. Nein, ihre Freunde sind schon alle bestens versorgt, haben die Pakete in den letzten Tagen bereits lächelnd entgegengenommen. Katharina ist wie immer perfekt organisiert, effizient, hat vorgesorgt und nun genug Zeit, um in all der Hektik des 24. Dezembers einen Kaffee zu trinken und das Getümmel um sich herum entspannt zu betrachten.
    Warum aber wagt sich ein Mensch, ohne es zu müssen, am Höhepunkt des jährlichen Kaufrausches in das Auge des Sturms? Katharina hätte nicht lange nachdenken müssen, wenn sie gefragt worden wäre: Um nicht allein zu sein. Wenn schon am Abend, dann nicht auch noch vorher. Früher wäre es ihr peinlich gewesen, das zuzugeben. Heute hat sie sich mit dem Gedanken arrangiert. Fast.
    Zu Hause warten nur anonyme Feiertagskarte und Rechnungen auf sie – Rechnungen, die sie allesamt bezahlen kann. Aber ist das nicht vielleicht auch schlimm? Unbezahlte Rechnungen, so geht es Katharina manchmal durch den Kopf, mögen bitter sein, doch sie verströmen in ihrer Vorstellung auch immer einen Hauch von Bohème: Da sitzt sie, die Künstlerin, allein an der Bar. Der schwarze Rollkragen liebkost ihren weißen, schlanken Hals. Sie kneift die Augen leicht zusammen, zieht mit spitzen Lippen an der halb heruntergebrannten Gauloise. Rechnungen? Wie profan. Alles wird sich geben. So jedenfalls stellt sich Katharina das vor – nur um sich im nächsten Moment für ihre Übersättigung zu hassen. Verwöhnte Kuh!
    Ja, sie kann ihre Rechnungen zahlen, doch das gibt ihr schon lange nichts mehr. Im Gegenteil: Jeder graue Umschlag, der in ihrem Briefkasten auf sie wartet, verheißt kein Gefühl von bedenkenloser Sicherheit und schon gar nicht von Rausch und Existenzialismus; jede Rechnung, die sie alleine zahlt, ist ein weiterer, von Langeweile getriebener Dolchstoß der Einsamkeit.
    Wieder muss Katharina lächeln – weniger bitter dieses Mal. Dolchstoß der Einsamkeit. Nicht schlecht. Wenn ich schon ein bisschen seltsam bin, denkt sie, dann bin ich doch immerhin auf eine sehr poetische Art seltsam.
    Warum sie stiehlt, weiß Katharina selbst nicht so genau. Wegen der Langeweile vielleicht, die sich immer mehr in ihrem Leben breitmacht? Ist es der Kitzel, der Kick für den
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