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Koma

Koma

Titel: Koma
Autoren: Robin Cook
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liegend und arbeitete am Schreibtisch, dessen Platte eine generationenalte Sammlung eingeschnitzter Initialen und alles andere als stubenreiner Kürzel aufwies. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Diagnose-Handbuch. Susan hatte es während der vergangenen drei Tage noch einmal vollständig gelesen und fühlte sich so unwissend wie zuvor.
    »Scheiße«, sagte sie laut, aber ohne besondere Betonung. Der Fluch richtete sich gegen nichts und niemanden, entsprang nur dem Bewußtsein, daß der ominöse 23. Februar gekommen war. Susan fluchte gern und oft, aber meist ohne Zeugen und Zielperson.
    Nachdem sie sich energisch der Bettdecken entledigt hatte, stellte sie fest, daß sie eine Viertelstunde zu früh aufgestanden war. So lange brauchte sie sonst, um sich mit Hilfe des Radios an den neuen Tag zu gewöhnen, ehe sie ins Bad ging. Jetzt blieb sie einfach sitzen und starrte vor sich hin. Und wünschte sich sehnlichst, daß sie Jura oder Literatur studiert hätte oder … alles auf der Welt, warum nur ausgerechnet Medizin?
    Die Kälte des Linoleumfußbodens kroch von den Füßen ihren Körper hinauf. Die Warzen ihrer wohlgeformten Brüste richteten sich auf, Gänsehaut wuchs an den Schenkeln. Sie trug nur ein dünnes, ausgewaschenes Flanellnachthemd aus ihren letzten Schultagen, ein Weihnachtsgeschenk. Immer noch zog sie es fast jede Nacht an, wenn sie allein schlief. An diesem alten Nachthemd hing sie. Es verkörperte die Beständigkeit in ihrem sich schnell wandelnden Leben. Und außerdem hatte ihr Vater sie am liebsten in diesem Nachthemd gesehen.
    Susan hatte sich schon sehr früh bemüht, ihrem Vater zu gefallen. Ihre erste Erinnerung an ihn war sein Geruch, eine Mischung von frischer Luft und Seife, überlagert von etwas, das sie viel später als typisch männlichen Duft zu identifizieren gelernt hatte. Ihr Vater hatte sie immer besonders nett behandelt, und sie wußte bald, daß sie sein Liebling war. Sie hatte das Geheimnis gehütet, insbesondere vor den beiden jüngeren Brüdern, aber es war in allen Krisen der Kindheit und Pubertät eine Quelle der Kraft und des Vertrauens für sie gewesen.
    Susans Vater war eine dominierende Persönlichkeit, aber von sanftem und großzügigem Wesen. In der Familie wie im Beruf spielte er die Rolle eines aufgeklärten Despoten. Sein Wort galt in allen Lebenslagen. Nicht, daß Susans Mutter einen schwachen Willen besessen hätte, sie war ihrem Mann nur einfach nicht gewachsen. Lange hatte Susan diese Konstellation als die Norm akzeptiert. Erst später machte sie die Erfahrung, daß die Welt auch anders sein konnte. Susan selbst ähnelte nämlich ihrem Vater sehr, der ihre Entwicklung in dieser Richtung auch nach Kräften förderte. Doch eines Tages ging ihr auf, daß sie trotzdem nicht wie ihr Vater sein konnte. Danach versuchte sie verzweifelt, ihrer Mutter ähnlich zu werden, aber auch das brachte sie nicht weiter. Ihre Persönlichkeit war nun einmal nach ihrem Vater geformt, und wenn sie auch nicht, wie dieser, ein Heim gründen und eine Familie in die Welt setzen konnte, schien es ihr in anderen Lebensbereichen geradezu vorherbestimmt, das Heft in die Hand zu nehmen. In der Abschlußklasse der High-School wurde sie mit überwältigender Mehrheit zur Klassensprecherin gewählt, obwohl sie gerade damals eine weniger exponierte Rolle bevorzugt hätte.
    Bei alledem hatte ihr Vater ihr nie Unmögliches abgefordert. Er war durch seine bloße Gegenwart eine Quelle der Zuversicht und des Selbstvertrauens und, vor allem, ein Vorbild für Susan, ihr Leben so zu leben, wie sie wollte, ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht. Erst während ihres Medizinstudiums merkte Susan, daß sie kein Einzelfall war und viele ihrer Kommilitoninnen aus dem gleichen oder einem ähnlichen Milieu kamen: einer vom Vater geprägten Vergangenheit. Und als sie die Eltern ihrer Freundinnen kennenlernte, kamen ihr die Väter fast ausnahmslos vertraut vor.
    Vom Heizkörper unter dem Fenster war ein Puckern zu hören, Vorbote einer behaglicheren Temperatur. Susan kehrte in die Gegenwart zurück, stand steif auf, reckte sich und schloß das Fenster, das einen Spaltbreit offengestanden hatte. Sie zog sich das Nachthemd über den Kopf und betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel an der Badezimmertür. Spiegel hatten sie immer fasziniert, und sie konnte an keinem dieser Zaubergläser vorübergehen, ohne ihre Erscheinung wenigstens flüchtig zu überprüfen.
    »Hättest Tänzerin werden sollen, Susan Wheeler«, sagte
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