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Kolonien der Liebe

Kolonien der Liebe

Titel: Kolonien der Liebe
Autoren: Elke Heidenreich
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Finger und ließ ihn heimlich in einen Gully fallen. «Warum?« fragte ich, und Holger sagte: «Man glaubt das überhaupt nicht, ist aber echt wahr, ey, direkt vor Hansi ist in der Gerswidastraße jemand vom Dach gesprungen, direkt vor seiner Nase, er soll ganz voll Blut gewesen sein, und dann soll er nicht mehr aufgehört haben zu schreien, bis sie ihn abgeholt haben. Zweimal im Leben so was, das ist ja auch ein Ding, oder?»Ich hatte plötzlich ganz weiche Knie und konnte nicht mehr stehen. Ich faßte nach Holgers Rad, lehnte mich an den Gepäckträger, und Holger sagte: «Was ist mir dir, du stinkst vielleicht nach Schnaps, bist du etwa besoffen?»
    Endlich konnte ich kotzen und kotzte direkt auf Holgers Schuhe.
    Holger schmiß sein Rad hin und schrie und fluchte, rieb die Schuhe am Herbstlaub ab und krakeelte hinter mir her, aber ich ging oder torkelte oder bewegte mich irgendwie weiter und dachte immer nur: «Lieber Gott, wenn es Dich gibt: neinneinnein, bitte: nein.»
    Aber es war Irma gewesen. Ich wußte es ja auch. Irma war auf den Speicher des Hauses Gerswidastraße 89 gegangen, in dem sie mit ihrer Mutter lebte, war durch ein Speicherfenster geklettert und in die Tiefe gesprungen, fünf Stockwerke eines Altbaus aus dem vorigen Jahrhundert sind hoch genug, um ein solches Vorhaben gelingen zu lassen. Sie hatte keinen Brief hinterlassen, kein Tagebuch, nichts.
    Ich bin nicht zur Beerdigung gegangen, und Irmas Mutter habe ich nur noch einmal von weitem gesehen, zwei Jahre später. Sie trug keinen Hut und kein geblümtes Kleid. Ich kam gerade aus dem Kino und hatte «... denn sie wissen nicht, was sie tun»
    gesehen, in dem James Dean Jim Stark spielt. Als der kleine Plato ihn fragt: «Wann, glaubst du, wird das Ende der Welt kommen?», antwortet Jim: «Nachts. Oder im Morgengrauen.» Aber Jim weiß es auch nicht genau, nichts weiß er genau, wie auch ich nichts genau wußte und nur fühlte: alles läuft falsch, das Leben geht einen Weg mit mir, den ich nicht gehen will. Jim schreit seinen Vater an: «Ich möchte jetzt eine Antwort!», und der Vater sagt: «In zehn Jahren blickst du zurück und wirst über dich selbst lachen. »
    Zehn Jahre sind längst um. Ich lache nicht.

Der Hund wird   erschossen
    Wir hatten ein kleines Haus am Stadtrand, in den fünfziger Jahren mühsam hochgezogen und von meinem Vater und seinen Brüdern in Wochenendbasteleien dauernd weiter ausgebaut. Es war an allen Ecken und Enden zu klein, denn wir waren fünf Leute, und wenn einer in dem winzigen Bad war, mußten die ändern vier warten, was besonders morgens, wenn mein Vater zur Arbeit und meine Schwestern und ich zur Schule mußten, erbitterte Kämpfe und Geschrei gab. Es paßten nicht zwei zugleich in dieses enge Badezimmer, in dem auch die Toilette war, und wenn man sich am Waschbecken einigermaßen temperamentvoll wusch, donnerte das Toilettenschränkchen von der Wand. Zum Duschen und Baden mußte man erst umständlich den großen Boiler heizen, das geschah nur an den Wochenenden, und oft mußte ich auch noch in Traudels Badewasser steigen, wenn sie fertig war - es wurde nur ein bißchen heißes Wasser nachgelassen. «Stell dich nicht so an», hieß es, «guck doch, ist noch gar nicht schmutzig, das wäre doch die reinste Verschwendung.» In Bellas Wasser wäre ich nie gegangen, Bella und ich haben uns nicht eine einzige Stunde in unserem Leben verstanden, ich glaube, niemand versteht sie.
    Traudel mochte sie auch nicht leiden, und sogar unsere etwas einfältige Mutter, die immer sagte: «Eine Mutter liebt alle ihre Kinder gleich», sah Bella manchmal nachdenklich an und dachte: Auf wen kommt sie nur? Ich fand, daß sie ganz auf unsere Tante Hedwig kam, eine abweisend kalte, hochmütige Frau, aber Mutter ließ auf Tante Hedwig nichts kommen und sagte immer nur: «Sie hat viel durchgemacht, das versteht ihr nicht.»
    Nun, Bella hatte nicht viel durchgemacht, wenigstens nicht mehr als Traudel und ich auch in dieser Familie. Aber wir schlössen uns nicht in unserem Zimmer ein, wir schwiegen nicht bei Tisch, wir aßen unsere Weihnachtsteller schon am Heiligen Abend leer, stibitzten uns gegenseitig die leckersten Brocken weg und teilten am Ende redlich, wenn eine noch mehr hatte als die andere. Bella dagegen schloß ihren Teller in ihrem Kleiderschrank ein, verriegelte ihre Zimmertür, und es konnte vorkommen, daß sie Mitte März mit Marzipankartoffeln im Wohnzimmer erschien und schweigend und aufreizend langsam davon aß,
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