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Kolonien der Liebe

Kolonien der Liebe

Titel: Kolonien der Liebe
Autoren: Elke Heidenreich
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nicht sehen zu müssen, und hörte die Sportberichte im Radio. Ich saß am Tisch über meinen Schulaufgaben, aber in Wirklichkeit schielte ich zu ihm hin - er hatte schöne kleine Hände und trug auch im Haus immer tipptopp gebügelte, blauweiß gestreifte Hemden, die er in einer Wäscherei waschen und bügeln ließ, weil meine Mutter sagte: «Sonst noch was.» Einmal hatte er sie gebeten, ihm einen Knopf anzunähen, und sie hatte geantwortet: «Laß das doch eins von deinen Flittchen machen», und damit war der Fall ein für allemal erledigt.
    Manchmal kitzelte ich meinen Vater am Fuß - er trug immer dunkelblaue Baumwollsocken - , und dann wackelte er mit den Zehen und sagte unter seiner Zeitung hervor: «Wer kann das wohl gewesen sein?», und meine Mutter zog mich an den Haaren und sagte: «Laß das gefälligst.» Sie klapperte möglichst laut in der Küche herum, und schließlich nahm er die Zeitung vom Gesicht, zwinkerte mir kurz zu, seufzte, zog seine Schuhe wieder an und ging. Ich sah ihn selten, aber er roch gut, war freundlich mit mir und schlug mich nie. Ich weiß noch, daß mein Vater, obwohl er eher klein und zierlich war und schütteres Haar hatte, eine unerklärlich starke Wirkung auf Frauen ausübte - sie sahen ihn jedenfalls entzückt an, fanden ihn charmant und sagten: «Walter, was du für schöne blaue Augen hast». Auf meine Mutter hatte er diese Wirkung natürlich nicht, oder vielleicht nicht mehr, denn irgendwann muß da ja mal was gewesen sein, dachte ich, sonst könnte es mich doch nicht geben. Aber als ich einmal an einem ziemlich friedlichen Abend, als im Radio ein Hörspiel mit Rene Deltgen lief, dessen Stimme meine Mutter mochte, so ganz nebenbei die Frage stellte: «Du und Papa, habt ihr euch eigentlich früher geliebt?», da stand meine Mutter abrupt auf, drehte das Radio aus und sagte: «Marsch ins Bett, Sonja, und keine blöden Fragen bitte.»
    In dieser Familie bekam man einfach nichts erklärt, und die Liebe war hier gänzlich unbekannt, soviel war mir inzwischen klar.
    Eines Sonntagnachmittags kam ich aus der Eisdiele, wo ich einen rothaarigen Geiger geküßt hatte, und schon von weitem sah ich, daß bei unserem Haus etwas los war. Aus dem zweiten Stock, wo wir wohnten, flogen Gegenstände auf die Straße: ein paar Schuhe, der eine hierhin, der andere dorthin, eine Jacke breitete ihre Ärmel aus und trudelte zu Boden, eine Hose mit flatternden Beinen folgte, ein paar gefaltete, gebügelte Hemden kamen nach.
    Unten stand mein Vater, sammelte alles auf und rief: «Hilde, nun laß es doch!», und oben sah ich die Hände meiner Mutter, wie sie Socken und Unterwäsche aus dem Fenster schleuderten, und ich hörte ihre Stimme: «Laß dich ja nicht mehr hier blicken!» Die Markowitz stand bei meinem Vater, half ihm aufsammeln und sagte: «Mein Gott, so vor allen Leuten, die hat sie ja nicht alle, Ihre Frau», und mein Vater sagte, als ich näher kam: «Sonja, geh ins Haus.» Ich blieb aber stehen und sah zu, wie er die Sachen in sein Auto trug, sie auf den Rücksitz warf und einstieg. Dann kurbelte er noch mal das Fenster runter, sah mich an mit seinen blauen Augen, grinste ein bißchen und sagte: «Das war's dann wohl. Sie will es ja nicht anders. Laß dich nicht unterkriegen, Sonja, ich komm ab und zu mal vorbei.»
    Er fuhr ab, und ich habe ihn erst acht Jahre später wiedergesehen, als er tot und blau angelaufen in der Leichenhalle aufgebahrt lag und eine junge Frau um ihn weinte und seine Hand hielt. Als ich dazukam, zog sie ihm den Siegelring ab, den er von seinem Vater geerbt hatte und immer am kleinen Finger trug, gab ihn mir und sagte: «Der ist für dich.» Jahre später habe ich diesen Ring in einem Hotel liegenlassen und nicht wieder zurückbekommen.
    Mein Vater hatte uns nun also verlassen, und kurz darauf wurde meine Mutter krank und mußte für Wochen in eine Klinik.
    «Waisenkind!» dachte ich, aber inzwischen war das Zimmer meines Vaters schon an eine Lehrerin vermietet, die Befehl hatte, auf mich aufzupassen. Die Lehrerin hatte ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, das sie so in Anspruch nahm, daß das Aufpassen ziemlich flüchtig ausfiel. Er kam nur am Wochenende -
    er lebte in einer anderen Stadt -, und dann gingen sie von Samstag auf Sonntag in ein Hotel. Das hatte meine Mutter sich ausbedungen - «Wegen dem Kind». In der Zeit saß ich in ihrem Zimmer und las die Briefe, die der verheiratete Mann ihr schrieb und mit denen sie sich Abend für Abend zurückzog,
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