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Kokoschkins Reise

Kokoschkins Reise

Titel: Kokoschkins Reise
Autoren: Hans Joachim Schädlich
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wegen ihrer Krankheit nicht reisen konnte.»
    «Sie wollten nicht darüber sprechen.»
    «Ich wollte auch nicht davon schreiben. Sie hatte Krebs. Nach der Therapie schien alles gut zu sein. Aber der Krebs kam zurück. Neunzehnhundertsechsundachtzig ist sie gestorben. Da war sie einundsiebzig.»
    «Das tut mir sehr leid.»
    Hlaváček holte aus der Küche Bier. «Ich habe etwas für Sie aufgestöbert, in meinem Lieblingsantiquariat. Eine tschechische Übersetzung Ihres Buches über Gräser und Halme.»
    «Zeigen Sie! Das ist eine Überraschung. Wann ist es herausgekommen?»
    «Vor fünf Jahren.»
    «Ich bin wieder da.»
    «Ab Achtundsechzig gab es in den Instituten Reinigungsgespräche habe ich es genannt. Säuberungen. Viele haben ihre Stelle verloren und mußten irgend etwas anderes machen. Ich war kein Kämpfer. Ich habe mich hinter Büchern versteckt und durfte in der Unibibliothek bleiben. Einer meiner Kollegen hat jahrelang als Heizer gearbeitet. Nach Neunundachtzig hat er ein Antiquariat übernommen. Bei ihm habe ich die tschechische Ausgabe Ihres Buches gefunden.
    Achtundsechzig. Wir hatten seit Neunzehnhundertachtundvierzig kommunistische Diktatur und wollten ein bißchen Freiheit. Da kamen die Russen.»
    Kokoschkin sagte: «Achtundsechzig in Prag ist im Grunde dasselbe passiert wie Neunzehnhundertsiebzehn in Rußland. Die Bolschewisten haben die Anfänge der Demokratie zerschlagen.»
     
    Am nächsten Tag gingen Kokoschkin und Hlaváček zu einem Reisebüro am Wenzelsplatz. Sie buchten den Flug nach Petersburg und bestellten für zwei Nächte zwei Zimmer im 5-Sterne -Hotel Rocco Forte Astoria in der Bolschaja Morskaja. «Ein gutes Hotel muß sein, sonst ertrage ich die Erinnerung an die verfluchten Tage nicht», sagte Kokoschkin.
     
    Am 22.   August flogen Kokoschkin und Hlaváček nach Petersburg.
    «Seit Neunzehnhundertachtzehn war ich nicht in Petersburg», sagte Kokoschkin. «Ehrlich gesagt:Ich fürchte mich. Aber ich freue mich auch. Das Hotel am Isaaksplatz. Die Isaakskathedrale, in die ich mit Mama regelmäßig gegangen bin. Die Blaue Brücke über die Moika. Und in der Nähe die Admiralität und die Eremitage.»
    «Für die Eremitage fehlt uns die Zeit.»
    «Und drüben die Peter- und Paul-Festung.»
     
    Vom Petersburger Flughafen Pulkowo II wollten Kokoschkin und Hlaváček mit einem Wagen des Hotels zum Hotel Astoria fahren. Kokoschkin hatte in Prag den Transfer gebucht. Es sollte ein Mercedes Benz der S-Klasse sein.
    Hlaváček sagte am Flughafen: «Wenn ich mich richtig erinnere, kostet der Transfer dreitausend Rubel. Ein Taxi hätte sechzig Rubel gekostet.»
    «Das muß sein», sagte Kokoschkin. «Es ist wie mit dem Hotel.»
    Unterwegs sagte Kokoschkin zu dem Fahrer: «Bitte, fahren Sie einen Umweg zum Taurischen Palais in der Spalernaja Uliza und fahren Sie langsam am Palais vorbei.»
    «Warum das?» fragte Hlaváček.
    «Im Taurischen Palais tagte vom achtzehnten Januar Neunzehnhundertachtzehn nachmittags bis zum neunzehnten Januar in aller Frühe die Verfassunggebende Versammlung, die erste frei gewählte in Rußland, und die letzte. Die Bolschewisten waren in der Minderheit. Deshalb haben sie die Versammlung am neunzehnten Januarmit Gewalt aufgelöst. Das war das Todesurteil für die russische Demokratie.»
    Als der Wagen langsam am Taurischen Palais vorbeifuhr, sagte Kokoschkin: «Mein Vater war Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung.»
    «Das wußte ich nicht», sagte Hlaváček.
    «Es war besser für mich, nicht davon zu sprechen.»
    Der Fahrer sagte, das Palais gehöre der Regierung und sei für die Öffentlichkeit geschlossen.
     
    Im Hotel Astoria fühlte sich Kokoschkin sogleich wohl. «Das ist nicht Rußland», sagte er im Foyer zu Hlaváček. Zwar wußte er, daß Trotzki einst im Astoria residiert hatte und zu Stalins Zeiten die Oberschicht der bolschewistischen Funktionäre. «Es ist jetzt eben Rocco Forte in Rußland, genau wie Rocco Forte in London, Brüssel, Rom, Berlin. ‹The art of simple luxury›.»
    Hlaváček sagte: «Ich glaube, ich gehe jetzt in die Eremitage.»
    «Ich ruhe mich aus», sagte Kokoschkin. «Dann gehe ich vielleicht spazieren.»
     
    Kokoschkin ruhte länger, als er es gewollt hatte. Er machte sich eilig auf den Weg. Auf dem Isaaksplatz, auf halber Strecke zwischen Hotel und Isaakskathedrale, wurden seine Schritte schwer; eine lastende Schwäche hielt ihn auf. Sollte er lieber zurückkehren ins Hotel. Kokoschkin blieb lange stehen. Dann ging er
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