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Kokoschkins Reise

Kokoschkins Reise

Titel: Kokoschkins Reise
Autoren: Hans Joachim Schädlich
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meinen Vater. Schostakowitsch hat auf dieser Veranstaltung seinen Trauermarsch gespielt.»
    «Das war im Januar Achtzehn noch möglich?»
    «Das war noch möglich. Vielleicht stammt der Titel Trauermarsch für die Opfer der Revolution doch auch von Schostakowitsch, später. Er ist zweideutig genug.»
     
    Im Hotel sagte Kokoschkin: «Mama kam nach Hause und weinte. Sie sagte, Papa sei im Hospital gestorben. Ich weiß nicht, von wem sie erfahren hatte, was geschehen war.
    Ich wollte ins Hospital, Papa noch einmal sehen.
    Mama sagte, das gehe nicht, dort herrsche Seuchengefahr.
    Sie weinte und schrieb einen Brief. Unser Hausmädchen brachte den Brief fort.
    Das Hausmädchen kam nach zwei Stunden mit einer Antwort zurück.
    Mama packte zwei Koffer, einen für mich, einen fürsich. Das Hausmädchen half ihr. Zuletzt legte Mama unsere Papiere, Geld und ein gerahmtes Foto von Papa in ihren Koffer.
    Das Foto besitze ich noch. Es muß eine offizielle Aufnahme sein. Später, in einem Antiquariat, habe ich das Bild, neben einem Bild von Schingarjow, wiedergefunden: in der Berliner Illustrirten Zeitung vom dritten Februar Neunzehnhundertachtzehn. Unter dem Bild von Schingarjow steht: ‹Zwei Opfer des Petersburger Schreckensregiments: Der Minister im Kabinett Kerenskis, Schingarjow, der jetzt im Krankenhaus ermordet wurde.› Unter Papas Bild steht: ‹Minister Prof.   Kokoschkin, der gleich Schingarjow von Soldaten auf dem Krankenbett in Petersburg ermordet wurde.› Ich weiß nicht, wer Papa beerdigt hat. Ich weiß nicht, wo er beerdigt ist.»
    «Man sollte es jetzt herausfinden», sagte Hlaváček.
    «Zu spät. Jedenfalls, wir zogen uns an und gingen mit unserem Hausmädchen los. Mama trug ihren Koffer, das Hausmädchen trug meinen.
    Nach einem langen Fußmarsch erreichten wir das Haus, in dem Tante Ludmilla, Mamas Stiefschwester, mit ihrem Mann Grigori wohnte. Onkel Grigori arbeitete bei der Eisenbahn, er war nicht zu Hause.
    Tante Ludmilla begrüßte uns weinend. Sie sagte: ‹Jetzt gibt es erst einmal Tee!› Wir setzten uns in der Küche um den Tisch.
    Mama gab unserem Hausmädchen Geld und unseren Wohnungsschlüssel. Sie sagte: ‹Nehmen Sie in der Wohnung,was Sie wollen, und gehen Sie bald fort, bevor die Tscheka kommt.›
    Das Hausmädchen weinte und verabschiedete sich.
    Tante Ludmilla sagte, Mama werde in der Wohnstube auf dem Sofa schlafen, ich in der Küche auf einer Matratze.
    Die Wohnung von Ludmilla und Grigori hatte nur zwei Zimmer.
     
    Bald kam Grigori von der Arbeit. Er sagte zu Ludmilla, es sei richtig gewesen, daß sie uns aufgenommen habe.
    Mama sagte: ‹Ich will mit dem Kleinen so schnell wie möglich fort von Petersburg.›
    Grigori sagte: ‹Ich finde heraus, mit welchem Zug, und ich besorge zwei Plätze.›
     
    Wir sind nur zehn Tage bei Ludmilla und Grigori geblieben.
    Grigori war Lokführer. Er brachte uns zu seinem Zug und führte uns zu einem Waggon.
    Unsere Papiere, das Geld und den Schmuck hatte Mama mittlerweile an sich genommen. Wir saßen in einem Abteil Zweiter Klasse. In den Dritte-Klasse-Wagen lärmten betrunkene Soldaten.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange wir unterwegs waren. Irgendwo sollten wir umsteigen, hatte Grigori uns gesagt. Wieder war der Zug endlos lange unterwegs. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir umgestiegen sind. In meiner Erinnerung verschwimmt die Reise.»
    «Wohin wollte Ihre Mutter mit Ihnen.»
    «Nach Odessa.»
    «Wollen Sie noch das Haus sehen, in dem Ihre Eltern mit Ihnen gewohnt haben?»
    «Um Gottes willen, nein! Wir können meinetwegen morgen nach Prag zurückfliegen.»
     
    Am Abend, im Hotel-Restaurant Wintergarten, sagte Kokoschkin: «Mama hatte in Petersburg davon gehört, die Ukraine habe ihre Unabhängigkeit von Rußland erklärt. Sie wollte mit mir ins freie Odessa. Bis heute weiß ich nicht, wie sie es in den damaligen Wirren geschafft hat, nach Odessa zu kommen.»
    Hlaváček sagte: «Vom bolschewistisch beherrschten Teil Rußlands ins freie Odessa.»
    «Sie hat es geschafft. Sie zog mit mir in eine einfache Pension. Es gab Gasthäuser, wo man preiswert essen konnte. Bald nach unserer Ankunft in Odessa, im März oder April, besetzten österreichische und deutsche Truppen die Ukraine. Wir fühlten uns sicher und gewöhnten uns an dieses Leben. Ich ging wieder in die Schule. In die ukrainische! Überhaupt, mir gefiel Odessa. Die südliche Stadt am Meer. Die breiten Straßen. Die Grünanlagen. Das Opernhaus! Mama nahm mich mit in die Oper. Und die
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