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Kohlenstaub (German Edition)

Kohlenstaub (German Edition)

Titel: Kohlenstaub (German Edition)
Autoren: Anne-Kathrin Koppetsch
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Knöchel an die Holzverkleidung.
    Drinnen rührte
sich nichts. Nach dem zweiten Versuch öffnete die Schwester die Tür mit dem
Schlüssel.
    »Hallo?«, rief sie
in den Flur hinein.
    Beim zweiten Ruf
erschien die alte Dame, die wir zuvor am Fenster gesehen hatten. Ein viel zu
großes helles Kleid, vielleicht ein Nachthemd, umschlotterte die magere kleine
Gestalt.
    »Pssst«, flüsterte
sie und hielt den Finger vor den Mund. »Leise. Mein Mann schläft.«
    Schwester Käthe
beugte sich zu ihr hin.
    »Wo?«, fragte sie
im gleichen Flüsterton zurück. »Wo schläft denn Ihr Mann, Frau Hanning?«
    Ich wunderte mich.
So weit mir bekannt, war Frau Hanning verwitwet. Was erzählte sie dann von
ihrem Mann?
    »Er schläft so
schön tief«, wiederholte die alte Dame. »Nicht aufwecken!«
    »Wo liegt er
denn?«, insistierte Schwester Käthe.
    »Nebenan, im
Wohnzimmer.«
    Die alte Frau
schlich auf Zehenspitzen zu einer vergilbten Tür mit Glaseinsatz. Vorsichtig
zog sie sie einen Spaltbreit auf.
    »Friedrich,
schläfst du noch? Wir haben Besuch!«
    Sie betrat das
Zimmer. Wir folgten ihr.
    Auf der Couch,
unter einer braunen Decke, lag Pastor Hanning. Schwester Käthe ging zu ihm und
fasste ihn am Handgelenk.
    »Der schläft
nicht«, sagte sie gleich darauf mit der Gewissheit einer Person, die schon
viele Menschen hat sterben sehen. »Der ist tot!«

DREI
    »Rosi«, sagte ich
zu meiner Freundin am Telefon, »wir haben über eine Stunde auf den Arzt
gewartet. Du kannst dir kaum vorstellen, wie gruselig das war, mit dem Toten in
der Wohnung.«
    »Martha«, sagte
Rosi am anderen Ende, »ich arbeite als Seelsorgerin im Altenheim. Da habe ich
schon viele Menschen sterben sehen.«
    »Im Altenheim ist
das normal, da sind die Leute alt. Hanning war höchstens vierzig!«
    »Woran ist er denn
gestorben?«
    »Ich weiß es
nicht, der Arzt hat uns den Befund nicht mitgeteilt.«
    »War die Polizei
da?«
    »Die Polizei?
Warum das?«
    »Es könnte ja
sein, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist. Hanning war doch gesund,
oder?«
    »Soweit ich weiß …«
    »Also keine
Polizei?«
    Ich runzelte die
Stirn.
    Schwester Käthe
hatte den Arzt angerufen und war anschließend neben dem Toten sitzen geblieben.
Ich hatte die Mutter meines verstorbenen Kollegen in die Küche begleitet, wo
sie auf mich eingeredet hatte. Froh über die Ablenkung hatte ich sie reden
lassen, ohne die Bedeutung ihrer wirren Worte wahrzunehmen. Durch die Scheiben
war das diffuse Licht des trüben Nachmittags gefallen. Und ich hatte
entsetzlich in dem ungeheizten Raum gefroren.
    »Wie lange hast du
denn in der Küche gewartet?«, fragte Rosi jetzt.
    »Weiß ich nicht.«
    »Stimmt. Du trägst
ja so gut wie nie eine Uhr.«
    »Wenn ich es recht
überlege: Auf der Anrichte lag eine Uhr.«
    »Lag? Sie stand
nicht dort?«
    »Ja, es war eine
Armbanduhr. Jedenfalls was mit Armband. Metall, eine Herrenuhr. Vermutlich von
Hanning. Als ich das erste Mal darauf schaute, war es kurz nach zwei. Dann halb
drei vorbei. Der Arzt kam noch später.«
    »Wie viel später?«
    »Nach drei,
schätze ich, aber ich habe nicht mehr darauf geschaut. Ich wollte einfach nur
weg. Und dann bin ich auch gegangen«, gestand ich. »Was danach passiert ist,
weiß ich nicht. Möglich, dass die Polizei noch kam. Wenn ich mich recht
entsinne, habe ich das Martinshorn gehört.«
    »Du bist abgehauen
und hast dir diese Sensation entgehen lassen?« Rosi konnte es kaum glauben. »Du
warst doch immer die Neugier in Person!«
    »Rosi, es war
gruselig! Mir war so schlecht … ich wollte nur noch nach Hause!«
    Da war ich erst
seit wenigen Wochen in der Gemeinde, und dann fand ausgerechnet ich die Leiche
eines Kollegen. Und noch dazu die desjenigen Kollegen, den ich mochte und
schätzte.
    Warum hatte es
nicht den anderen getroffen?
    Sofort schämte ich
mich für diesen Gedanken.
    Mir fiel noch
etwas ein: »Gleichzeitig mit dem Arzt kam Kruse in Begleitung seiner Frau. Dann
folgte jemand, den ich nicht kenne.«
    »Und? Wie hat dein
Kollege reagiert?«
    »Er hat gesagt:
›Schwester Gerlach, das ist ja wie in der Ostergeschichte: Die Frauen waren
zuerst am Grab.‹«
    »Ganz schön
makabere Bemerkung von unserem lieben Kollegen«, stellte Rosi fest.
»Wahrscheinlich wäre er selbst gern der Erste gewesen.«
    Plötzlich packte
mich ein Lachreiz, einer von der Sorte, die das Zwerchfell hüpfen lässt und
sich immer weiter fortpflanzt, wie ein Echo, das durch die Gänge eines
Höhlenlabyrinths von einer Wand zur anderen
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