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Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch
Autoren: Bernd Hontschik
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Passungsverlust auf der sozialen Ebene führte zu einer Regression auf die Ebene des ikonischen Erlebens, das unter den besonderen Gegebenheiten nur noch in der Einschränkung auf Schmerzen gelebt werden konnte. Eine Wiederherstellung der Passung auf der sozialen Ebene stellte das Gleichgewicht zwischen ikonischer, indexikalischer und symbolischer Ebene wieder her und ließ die Schmerzen fast vollständig abklingen.
    Aus dem Blickwinkel der Integrierten Medizin und damit des Konstruktivismus stellt sich diese Fallgeschichte folgendermaßen dar: Der Patient wird als offenes System gesehen, welches als triviale Maschine den Gesetzen der Physik folgt (er leidet an Leberzirrhose, dadurch entstandener freier Flüssigkeit im Bauchraum, infolgedessen erhöhtem Druck im Bauchraum und infolgedessen Schmerz). Aus der Konstruktionsregel ›offenes System‹ folgt auch die Anwendung des pragmatischen Realitätsprinzips. Die Richtigkeit einer Konstruktionsregel mußsich aber im Handeln erweisen. Im konkreten Fall bedeutet dies, daß die Ausschwemmung der Flüssigkeit aus dem Bauchraum den Schmerz hätte bessern sollen. Dies ist jedoch nicht der Fall.
    In systemischer Hinsicht wird anfangs ein Bild nicht vom gesamten Patienten, sondern von einem Subsystem entworfen, und zwar von Bauch und Leber. Warum dieser Patient Alkoholiker war, warum er abstinent werden konnte, worunter er jetzt leidet, ist nicht Gegenstand der medizinischen Betrachtung, die sich zunächst auf ein Subsystem beschränkt. Andere als indexikalische Zeichen werden aus der nicht-trivialen Maschine, der Black Box Patient, nicht wahrgenommen.
    In semiotischer Hinsicht interessieren in der zunächst schulmedizinischen Sichtweise nur indexikalische Zeichen: Aszites-Menge, Befund der Darmspiegelung, Labordaten. Dieses Vorgehen stellt eine bestimmte Passung zum Patienten her, die durchaus hätte erfolgreich sein können, wenn sich das Problem des Patienten auf dieser System-Ebene, in dieser Zeichenklasse und mit dieser Konstruktionsregel hätte begreifen lassen. Dies ist aber nicht der Fall. Der Schmerz und das Leiden des Patienten nehmen zu.
    Interessanterweise reagiert die Ärztin nun auf die anhaltenden Klagen, also auf ein Gefühl des Patienten. Sie integriert damit ikonische Zeichen und verläßt die biotechnische Sichtweise des offenen Systems. Damit ändert sich auch das Realitätsprinzip: Die Ärztin lindert das Gefühl Schmerz und wechselt bei dieser Gelegenheit in das kommunikative Realitätsprinzip. Diese Form der Kontaktaufnahme hat erstmals Erfolg, der Patient antwortet positiv: Es geht ihm besser. Dieser Vorgang ist hoch bedeutsam.Der Patient möchte kommunizieren, was aber aufgrund einer Passungsstörung scheiterte: Er wurde zunächst auf ein pragmatisches Kommunikationsprinzip reduziert, obwohl er eine gemeinsame Wirklichkeit, also ein kommunikatives Realitätsprinzip suchte, in dem er über Gefühle und deren Bedeutung sprechen wollte.
    Als allgemeines Muster von Passungsstörungen sehen wir hier das Aufeinandertreffen von an sich unvereinbaren Realitätsprinzipien. Gleichzeitig findet von seiten der Ärztin eine Art Passungsdiagnostik statt: Sie erprobt, mit welchem Kommunikationsprinzip sich eine bessere Passung ergibt.
    In ihrem Krankenbericht ist gleich der erste Satz bemerkenswert: »Ich klärte ihn in vollem Umfang über seine Erkrankung auf.« Darin ist implizit eine Reihe von Annahmen enthalten: Das Leberkarzinom sei die gesamte Erkrankung, über die zu informieren sei; die Ärztin wisse alles Erforderliche, eine gemeinsame Wirklichkeit mit dem Patienten im Sinne des kommunikativen Realitätsprinzips sei deshalb nicht notwendig; die Krankheit des Patienten lasse sich auf der Systemebene ›Körper‹ erklären.
    In den folgenden Sequenzen sind die Ärztin und die Familie intensiv mit der Systemebene ›Körper‹ beschäftigt, der Patient hingegen wird immer stiller, er klagt über Schmerzen, die mit Morphium nicht mehr stillbar sind. Nebenbei bemerkt: Der Patient wird still, die Schmerzen lassen sich nicht stillen, und das Stillen ist zu Beginn jedes Lebens ein höchst ikonischer Vorgang. Der Schmerz als ikonisches Zeichen enthält in unserem Fall eine Botschaft, die nicht mehr verstanden werden kann. Es ist offensichtlich zum Passungsverlust gekommen. Wir können diesenVorgang als semiotische Regression bezeichnen, die sich bemerkenswerterweise auf beiden Seiten, bei Ärztin und Patient, abspielt. Der Patient verstummt, die symbolische
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