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Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch
Autoren: Bernd Hontschik
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befriedigt: Der Oberbauchschmerz ließ sich überzeugend als Folge der Leberkapselspannung und der Stauung der großen Lebervenen erklären. Die Diagnose eines fortgeschrittenen Tumorleidens bedeutet innerhalb des traditionellen schulmedizinischen Betriebs aber immer auch eine Kapitulation, nämlich vor unserem Anspruch, unsere Patienten heilen zu können. Das Ursache-Wirkungs-Modell ist befriedigt, gibt aber keine Handlungsanweisung mehr.
    Herr F. konnte nicht mehr mit der Absicht der Heilung in irgendeinem Tumorzentrum aggressiv behandelt werden. Auch wenn es eine todbringende Diagnose war, die ich ihm mitteilen mußte, verschaffte sie mir doch eine gewisse Erleichterung, weil ich ja die Ursache der Beschwerden gefunden hatte. In dieser Situation verkannte ich, daß meine Haltung auch etwas tendenziell Triumphales annahm, ein bißchen nach dem Motto: »Ich gratuliere Ihnen, Sie sind kein Simulant.« Meine Aufklärung versuchte nicht, an die Passungsgeschichte zwischen uns anzuknüpfen. Ich informierte ihn lediglich ernst und sachlich über das bevorstehende Ende seiner Geschichte. Ich zerschlug sozusagen mit einem Mal alles Porzellan, das wir zuvor in langen Visitengesprächen in unserer gemeinsamen Vitrine angesammelt hatten. Nachdem seine Tochter ihn verlassen hatte, drohte nun ich, die er als Ersatztochter hatte annehmen können, ihn nicht nur erneut aus der Bahn, sondern regelrecht aus dem Leben zu werfen.
    Herrn F. erfaßte eine tiefe Verzweiflung. Sein Symptom, der Schmerz, nahm wieder an Intensität zu. Je wenigerich von seiner Situation begriff, je weniger ich verstand, daß er die Beziehung zu mir brauchte, mein therapeutisches Angebot aber nur noch dem Tumorschmerz galt, desto mehr Schmerzmittel brauchte er. Er sprach nicht mehr mit mir, auch nicht mit seinen Angehörigen oder den Schwestern, weil ihn seine Verzweiflung sprachlos gemacht hatte. Unsere gemeinsame Wirklichkeit war zerbrochen.
    Herr F. und ich haben nicht über den Wechsel der Wirklichkeitskonstruktionen miteinander verhandelt, sondern ich hatte die Regeln des kommunikativen Realitätsprinzips zugunsten des pragmatischen der trivialen Maschine verlassen. Bei diesem Wechsel spielte vermutlich eine Rolle, daß ich innerlich nicht bereit war, mich auf die Todesangst des Patienten, seine Verlusterfahrungen und seine existentiellen Befürchtungen in einer angemessenen Weise einzulassen. Die nach den Regeln des offenen, trivialen Systems gegebene Erklärung über die Art der Erkrankung und ihre Unheilbarkeit folgt dabei unausgesprochen einem moralischen Anspruch, den der Arzt von seinem Patienten einfordert: Weil wir nun wissen, daß wir den Kranken nicht mehr heilen können, geben wir unsere Verantwortung ab, wir geben sie dem Kranken zurück. Im Geiste einer protestantischen Ethik appellieren wir an die Idee einer Selbstverantwortung und Selbstbestimmung des Patienten, und das gerade zu einem Zeitpunkt, wo der Kranke seine Autonomie in einem bisher nicht gekannten Ausmaß eingebüßt hat und somit eben diesen hehren, sich moralisch begründenden Erwartungen nicht entsprechen kann. Hier wird einmal mehr eine Grenze des ärztlichen Handelns nach den Regeln des offenen Systems sichtbar, das ungewollt ›toxische‹Nebenwirkungen entfalten kann und den Patienten quält, indem es ihm eine gemeinsame Wirklichkeit versagt.
    Ich war entsetzt über Herrn F.s schnellen Verfall. Mit der Dynamik des Tumorleidens konnte ich mir den jetzt offenbar unmittelbar bevorstehenden Tod nicht erklären. Ich fragte ihn immer wieder, ob er sich uns nicht mitteilen könne oder ob er sich uns nicht mitteilen wolle. Er gab mir keine Antwort, sondern blickte mich nur unsagbar traurig aus großen, wachen Augen an. Da Herr F. nicht mehr mit mir sprach, bedurfte es einer gemeinsamen semiotischen Regression auf ein anderes Kommunikationssystem, in dem wir uns verständigten: Es war der Blick des Patienten, der mich berührte und mir auf vorsprachliche Weise zur Antwort gab, daß er vielleicht todtraurig, aber nicht sterbend sei. Seine Augen waren wach und ließen erahnen, daß Herrn F. vielschichtige Wünsche und Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen bewegten.
    Der Regelkreis des Blicks ermöglichte auf der vorsprachlichen, ikonischen Ebene eine kommunikative Abstimmung, die mir den erneuten Zugang zu der individuellen Wirklichkeit meines Patienten eröffnete. Ich hatte erneut das Modell gewechselt und betrachtete ihn jetzt wieder nach dem Modell des geschlossenen Systems des
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