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Königskind

Königskind

Titel: Königskind
Autoren: R Merle
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Königs für
     gering hätte achten müssen.
    Endlich kamen Monsieur de Luynes und der Doktor Héroard, der, mittlerweile bejahrt und wohlbeleibt, im Gefühl seines bedeutenden
     Amtes mit einer Langsamkeit einige Schritte hinter jenem zurückblieb, deren Würde mir nicht entging. Héroard genoß das Hochgefühl
     und ließ es uns spüren, daß die ersten Minuten nach dem Erwachen des Königs ausschließlich ihm gehörten, während Luynes, Déagéant
     und ich schweigend den Baldachin umstanden und ihn ernst wie ein Priester amtieren sahen.
    |455| Héroard begann den Urin zu beschauen, den die königliche Blase leise von sich gegeben hatte, und erklärte: »Hellgelb und in
     ausreichender Menge«. Dann faßte er Ludwigs Handgelenk, zog aus der in seinen Ärmel eingenähten Tasche einen dicken Chronometer
     und maß seinen Puls, den er nicht ohne eine Spur von Feierlichkeit als »volltönend, gleichmäßig und in geregeltem Abstand«
     bezeichnete. Als er seine Uhr wieder eingesteckt hatte, legte er seine Hand auf die Stirn des Königs, und nachdem er sie einige
     Sekunden dort gelassen hatte, zog er sie weg und nannte die »Wärme mild«. Endlich betrachtete er Ludwigs Züge eine volle Minute
     und schloß, ohne von seinem unpersönlichen Ernst abzuweichen: »Das Aussehen ist gut und die Miene heiter.«
    Eine Erklärung, die mich erstaunte, denn ich fand dasselbe Gesicht blaß, unausgeruht und gespannt, wie es auch ganz natürlich
     war bei einem Knaben von fünfzehneinhalb, der vier Nächte kaum ein Auge zugetan hatte und sein Leben in einem so ungewissen
     Abenteuer aufs Spiel setzte. Während ich dies dachte, sagte Héroard, er sei fertig, die Diener könnten Seine Majestät jetzt
     kämmen. Im Gegensatz zu meinen ersten Gedanken kam ich jedoch zu dem Schluß, daß Héroard über unsere Unternehmung Bescheid
     wußte, daß aber der König ihn gebeten hatte, sich davon nichts anmerken zu lassen. Deshalb also gab er vor uns die falschen
     Feststellungen über das gute Aussehen des Königs ab, die er in Kürze der Königinmutter zu vermelden hatte und die darauf abzielten,
     ihr Mißtrauen einzulullen.
    Nachdem der König gekämmt und angekleidet war und gebetet hatte, nahm er ein ganz leichtes Frühstück zu sich, dann begab er
     sich mit Luynes, Déagéant und mir in die Kleine Galerie, wo er versuchte, seine Erwartung abermals beim Billard abzulenken.
     Er forderte Luynes, der ein sehr guter Spieler war, zur Partie mit ihm auf. Luynes, der mit vorgetäuschtem Eifer annahm, wünschte
     sich wahrscheinlich zwanzig Meilen weit weg und mit einem starken, schnellen Gaul zwischen den Beinen. Jedenfalls vollbrachte
     er an jenem Tag keine Wunder, seine Hand war zu unsicher. Die von Ludwig zitterte zwar nicht, aber zwischen zwei Stößen brauchte
     er endlos lange, wenn er abwesenden Blickes die Spitze seines Queues mit Kreide einrieb. Schließlich wurde er die Zerstreuung
     leid, die |456| ihn so wenig zerstreute, und rief Descluseaux, damit er die Tür des Waffenkabinetts im Oberstock aufschließe.
    Der Anblick seiner schönen blanken Waffen in den Ständern schien ihm wohlzutun, und er liebkoste sie mit Augen und Hand, dann
     ließ er sich von Descluseaux seine ›dicke Vitry‹ auf den Tisch legen: so nannte er, der Leser wird sich erinnern, eine prächtige
     Muskete, die als das derzeit beste Erzeugnis der Waffenkunst galt. Es war ein Luntengewehr, das über hundert Fuß reichte und
     mit fabelhafter Genauigkeit traf. Ludwig nahm die Waffe auseinander, putzte sorgsam ihre Teile, setzte sie mit seinem üblichen
     Geschick wieder zusammen. Dann lud er sie, ohne aber die Lunte schon zu entzünden, und übergab sie Descluseaux. Hierauf ging
     er, von uns gefolgt, in sein Gemach hinunter, wo er sich auf einen Schemel setzte und stumm und still, die Augen am Boden,
     sitzen blieb. Kurze Zeit später stand er auf und befahl Berlinghen, ihm seinen Degen umzugürten. Dann marschierte er auf und
     ab durch den Raum, wobei er gerade und sehr entschlossen vor sich hin blickte.
    Gegen halb elf Uhr geschah etwas so Unerhörtes, daß ich es noch heutigen Tages kaum glauben kann, obwohl ich dessen Zeuge
     war. Ein Mensch, den niemand am Hof kannte und den nachher auch niemand wiedersah – doch was sage ich, ein Mensch? ein Hanswurst,
     ein Verrückter, ein Obernarr, ein dem Tollhaus Entsprungener sollte ich sagen –, kam atemlos und zerzaust an die Tür und schrie:
     »Sire! Sire! Sie haben den Marschall von Ancre verfehlt, und
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