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Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht

Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht

Titel: Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Autoren: Bernhard Hennen
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nicht gewagt, die Bleitafel zu holen, und doch jeden Tag darüber gebrütet, was auf ihr geschrieben stehen könnte, und was dein Freund Zenon in dem Grab herausgefunden hatte, das ihn das Leben kostete. Aber kaum hast du Gewissheit, gibst du dieses Erbe an einen anderen weiter!«
    »Du hast deinen Eid geleistet! Du hättest nicht hierherkommen müssen. Ich habe dich nicht gezwungen!« Die Stimme des Alten zitterte vor Wut. Er hatte die Fäuste geballt, so dass die Klingen aus seinem zerrissenen Handschuh hervortraten.
    »Willst du nun mich töten? Mich, den Erben der Last, die du nicht zu tragen bereit bist?«
    »Nein!« Der Alte streckte die Hände, und die Klingen verschwanden. »Ich werde dich jetzt allein lassen. Nur so wirst du begreifen, was es heißt, diese Bürde zu tragen. Ich habe sie genauso wenig gewollt wie du. Und du hattest die Wahl!« Seine Stimme klang unendlich müde. Er wandte sich ab.
    Lange stand Hartmann vor dem Hochaltar. Die Bleitafel lag in seiner Hand, als wolle sie ein Teil von ihm werden.
    Schließlich verließ er den Dom. Bald würden die Mönche kommen, um ihr mitternächtliches Gebet zu verrichten.
Müde irrte Hartmann durch die Straßen, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, bis die ersten Hähne heiser den neuen Tag begrüßten. Den Tag, der ganz im Zeichen der Heiligen Könige stehen würde.
    Die Glocken der Stadt erklangen. Erst waren es nur einzelne, dann fielen immer mehr bronzene Stimmen in den majestätischen Chor ein. Bald waren die Straßen voller Menschen, und ohne es zu wollen, ließ Hartmann sich von ihnen mitreißen, bis er sich schließlich vor dem Dom wiederfand. Alle Portale der großen Kirche waren weit geöffnet, und aus ihrem Inneren erklang feierlicher Gesang. Ringsherum fielen die Menschen auf die Knie. Manche von ihnen stimmten in das Te Deum ein, andere summten nur die Melodie mit. Plötzlich aber wurde es von einem Augenblick zum anderen still. Die Glocken waren längst verstummt, und all die Tausende von Menschen, die sich versammelt hatten, schienen den Atem anzuhalten. Da erschien er. Hell wie eine zweite Sonne erstrahlte der große Heiligenschrein im kalten Winterlicht, als er auf einem hölzernen Podest durch das hohe Portal getragen wurde.
    Die Menschen drängten ihm entgegen, schrien, jubelten und versuchten den kostbaren Reliquienschrein zu berühren. Vor dem Portal wurden Kranke und Krüppel hochgehoben. Wie Treibgut im Meer, so trieben sie auf der Menge der Leiber, gehalten von Hunderten Händen, die ihnen weiter nach vorne halfen, damit sie den kostbaren Schrein berühren konnten, um die Nähe der Heiligen zu spüren, die jegliche Pein beenden mochte.
    Hartmann musste daran denken, was Zenon über den Sinn von Heiligen gesagt hatte. Sie waren dazu da, dem Volk Hoffnung zu geben. Sie waren das Öl für die Flamme
der Frömmigkeit! War man nur überzeugt genug davon, dass die Gebeine der Heiligen in diesem Schrein Wunder wirken konnten, mochte dann der Glaube allein nicht die Kraft besitzen, ein Wunder Wirklichkeit werden zu lassen? War es also letztlich nicht gleichgültig, welche Gebeine in dem Reliquiar lagen? Und hatte er das Recht, die Hoffnungen all dieser Gläubigen zu zerstören, indem er ihnen ihre Heiligen nahm? Hartmann ballte die Hand, in der er die halbe Nacht die Bleitafel bei sich getragen hatte, zur Faust. Dann ließ er das dunkle Metall fallen.
    Die Sonne war schon ein gutes Stück den Himmel hinaufgewandert, als er das Gasthaus vor den Toren der Stadt erreichte. Die Schankstube war fast leer. Müde ließ er sich auf der Bank vor dem Feuer nieder und streckte seine Hände den Flammen entgegen.
    Der Wirt stellte eine große Schüssel dampfender Suppe neben ihn auf den Tisch und legte einen Kanten Brot dazu. Fragend blickte Hartmann auf.
    »Euer Kamerad meinte, dass Ihr sicher durchgefroren und hungrig sein würdet, wenn Ihr zurückkehrt.«
    Der Ritter sah sich verwirrt in der Schankstube um. Ingerimm war nirgends zu sehen. »Und wo ist er jetzt?«
    »Hat er Euch denn nichts gesagt? Er ist kurz nach Sonnenaufgang davongeritten. Ich soll Euch noch etwas ausrichten. Er sprach von einem Ritter des Winters und … Ja, er meinte, es sei in der Tat klüger, ein Erbe von Seide anzutreten als eines von Blei. Seltsam, nicht wahr? Er hat auch etwas für Euch zurückgelassen.« Der Wirt eilte zur Theke, holte etwas dahinter hervor und legte es neben den Suppenteller.
    Vorsichtig nahm Hartmann es auf. Es waren ein brüchiger
nachtblauer
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