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Knochenhaus (German Edition)

Knochenhaus (German Edition)

Titel: Knochenhaus (German Edition)
Autoren: Elly Griffiths
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schon hinter einem dicken BMW, auf dessen hinterer Ablage selbstgefällig zwei Reitkappen thronen. Langsam entwickelt sie einen regelrechten Hass auf diese BMW-Besitzer mit ihrem Aufkleber von Longleat House, dem personalisierten Nummernschild – SH3LLY 40 – und ihren Reitausflügen am Wochenende. Wahrscheinlich mögen sie eigentlich überhaupt keine Pferde. Ruth, die in einem Vorort von London aufgewachsen ist, hat selbst nie auf einem Pferd gesessen, hegt aber eine heimliche Vorliebe für Pferdebücher. Diese Shelly hat den Wagen unter Garantie zum vierzigsten Geburtstag bekommen, zusammen mit einem Karibikurlaub und einer ganz besonderen Botox-Behandlung. Ruth wird in zwei Monaten vierzig.
    Sie hat den Besuch im Pub genossen, obwohl sie selbst nur Orangensaft getrunken hat. Max hat hochinteressante Dinge über römische Bestattungsriten erzählt. Man halte die Römer immer für besonders zivilisiert, weil sie sich so entsetzt über die barbarischen Sitten der Eisenzeit zeigten, dabei gebe es zahllose Belege dafür, dass es auch bei ihnen noch Bestattungen als Strafmaßnahmen, rituelle Tötungen und sogar Kindsmorde gab. Der Schädel eines kleinen Jungen, der vor etwa zehn Jahren in St. Albans gefunden worden war, belege beispielsweise, dass sein Besitzer zunächst zu Tode geprügelt und dann enthauptet worden sei. Und in der Grafschaft Kent, in der Nähe von Springfield, habe man an allen vier Ecken eines römischen Tempels Fundamentopfer in Gestalt zweier Säuglinge gefunden. Ruth fröstelt und fährt sich unwillkürlich mit der Hand über den Bauch.
    Trotz seiner Geschichten von Tod und abgetrennten Schädeln hat sie sich in Max’ Gesellschaft sehr wohl gefühlt. Er ist in Norfolk aufgewachsen und liebt die Gegend offensichtlich. Ruth hat ihm von ihrem Häuschen an der nördlichen Küste erzählt, von den Winden, die direkt aus Sibirien herüberwehen, und vom Moor, wo der Strandflieder lila blüht. Max hat erklärt, dass er es gern einmal sehen würde, und Ruth hat erwidert, das würde sie sehr freuen, doch weiter sind beide nicht gegangen. Immerhin hat Ruth aber zugesagt, in der nächsten Woche noch einmal zur Ausgrabungsstätte zu kommen. Max erwartet ein Studententeam aus Sussex. Sie werden auf den Feldern ringsum zelten und den ganzen Mai und Juni mit Grabungen verbringen. Einen Moment lang wird Ruth ganz nostalgisch, denkt zurück an ihre eigenen sommerlichen Ausgrabungen: an die Kameradschaft, die Lieder und Joints abends am Lagerfeuer, die tägliche Knochenarbeit. Den Mangel an ordentlichen Toiletten oder Duschen vermisst sie allerdings überhaupt nicht. Inzwischen ist sie einfach zu alt für so etwas.
    Zum Glück biegt SH3LLY 40 jetzt nach links ab, und Ruth sieht bereits die Hinweisschilder nach Snettisham und Hunstanton. Sie ist fast daheim. Im Radio, das wie immer auf den Kultursender Radio 4 gestellt ist, ist von Trauer die Rede: «Ein Jegliches hat seine Zeit.» Ruth liebt den Sender heiß und innig, doch es gibt eindeutig Grenzen. Sie schaltet auf Kassettenrecorder um – ihr Wagen ist viel zu alt, um einen CD-Player zu haben –, und gleich darauf ertönt Bruce Springsteen mit seinem ehrlichen, echt amerikanischen Röhren. Ruth liebt Springsteen, die leere Landstraße, die zum Scheitern verurteilten Liebesgeschichten, die guten Freunde, die alle Bobby Joe heißen und am Leben verzweifeln, und kein Spott oder Hohn wird sie jemals davon abbringen. Sie dreht die Musik lauter.
    Inzwischen fährt sie unter hohen Bäumen hindurch, am Straßenrand wuchert Bärenklau. Gleich werden die Bäume wie von Zauberhand verschwinden, und das Meer wird sich vor ihr ausbreiten. Dieser Augenblick, wenn sich der Horizont plötzlich ins Unendliche dehnt, das Blau in Weiß und dann in Gold übergeht, wird für sie immer etwas Besonderes bleiben. Ruth fährt schneller, und als sie den Campingplatz erreicht, hinter dem die Straße nach Hause beginnt, hält sie an, steigt aus und lässt sich den Seewind durchs Haar wehen.
    Vor ihr liegen die Dünen, die der Wind zu den abenteuerlichsten Gestalten formt. Die Flut hat noch nicht eingesetzt, das Meer ist kaum zu sehen, nur als bläulicher Streifen hinter dem grauen Sand. Hoch über ihr kreischen Möwen, das rote Segel eines Windsurfers gleitet stumm vorbei.
    Ohne Vorwarnung beugt Ruth sich vor und muss sich heftig übergeben.

    Die Burg, Norwich Castle, das viktorianische Sahnehäubchen auf dem ohnehin schon gehaltvollen mittelalterlichen Kuchen der Stadt,
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