Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Knochenfinder

Knochenfinder

Titel: Knochenfinder
Autoren: Melanie Lahmer
Vom Netzwerk:
er keine Musik?«
    Nun wich Staudt ihrem Blick nicht mehr aus, sondern sah ihr fest in die Augen. »Das mag komisch klingen, da gebe ich Ihnen recht«, erwiderte er und hob entschuldigend die Schultern. »Aber wissen Sie: In diesem Haus leben drei Erwachsene, von denen jeder seine eigenen Wege geht. Ich habe meine Arbeit, meine Frau hat ihre Verpflichtungen und René seine. Da passiert es immer wieder, dass man sich mal einen Tag lang nicht über den Weg läuft. Und weil wir wissen, dass das so ist, haben wir unser samstägliches ›Ritual‹ eingeführt. Meine Frau macht Fisch; wir richten den Tisch im Esszimmer her – mit Servietten, Kerzen und gutem Geschirr – und essen dann gemeinsam. Es hat sich bewährt: Wir führen schöne Gespräche, sind einander nah und holen das nach, was uns unter der Woche nicht gelingt – ein Familienleben.«
    Er kratzte sich erneut am Hals, zartrosa Striemen blieben zurück.
    Karin Staudt sah zu Winterberg. »René hätte das Fischessen niemals verpasst, ohne einen triftigen Grund zu haben. Das war für uns ein Alarmzeichen.«
    Natascha war empört darüber, dass die Eltern sich offensichtlich nur samstagabends um ihren Sohn kümmerten. »Aber René ist noch ein Schüler!«, entfuhr es ihr unwillkürlich. »Er ist kein Erwachsener, der ohne jegliche Anleitung sein eigenes Leben führen kann!«
    Karin Staudt sah sie bestürzt an, in ihren Augen schwammen Tränen. »Glauben Sie, das wüssten wir nicht? Wissen Sie, was es heißt, eine Familie zusammenzuhalten? Sie haben keine Kinder, oder?«
    Natascha schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Das hier durfte sie nicht persönlich nehmen. Ihre Vorwürfe hatten auch den Zweck gehabt, die beiden aus der Reserve zu locken. Wie vermutet hatte sich nur Karin Staudt dazu verleiten lassen, die starre Haltung aufzugeben und kurzzeitig Gefühle zu zeigen. Gut zu wissen, dachte Natascha.
    Winterberg ergriff wieder das Wort. »Es ist nur zu menschlich, dass Sie sich Vorwürfe machen. Aber lösen Sie sich von Ihren Schuldgefühlen und überlegen Sie lieber, was Ihnen noch alles einfällt. Damit helfen Sie René und sich selbst am meisten.« Seine Stimme war sanft und mitfühlend, und die Taktik zeigte bei Michael Staudt Wirkung.
    Er räusperte sich. »Also ... René ist schon einmal weggelaufen, letztes Jahr im Herbst. Na ja, ›weggelaufen‹ ist vielleicht ein bisschen übertrieben ausgedrückt.« Staudt lachte freudlos. »Er hat sich ein Bahnticket gekauft und ist zu meinem Schwager nach Kassel gefahren. Zu Karins Bruder Holger.« Wieder warf er seiner Frau einen Seitenblick zu. »Doch René war kaum dort angekommen, da hat Anke, also die Frau meines Schwagers, bei uns angerufen und Bescheid gesagt, dass er bei ihnen ist. Wir waren natürlich sehr erleichtert und haben ihn am nächsten Tag nach Hause geholt. Na ja, und weil er eben schon einmal nach Kassel weggefahren ist, haben wir am Samstag natürlich auch bei meinem Schwager angerufen. Aber diesmal ist René nicht dort aufgetaucht. Und als wir sagten, wir wollten die Polizei anrufen, hat Holger uns beruhigt und gesagt, wir sollten erst mal den Samstagabend abwarten. Vielleicht wäre René nur auf einer Party oder würde sich mit einer Internetbekanntschaft oder einem Mädchen treffen.« Er sah kurz zu Boden, dann wieder zu Winterberg. »Außerdem meinte er, Sie würden René ohnehin nicht richtig suchen, weil er schon erwachsen ist und weiß, was er tut. Und solange es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, würden Sie uns nur vertrösten. Und so war es ja zunächst auch, nachdem wir den Jungen am Sonntag als vermisst gemeldet hatten.«
    »Weshalb ist Ihr Sohn bei diesem ersten Mal weggelaufen?«, wollte Natascha wissen.
    »Er hatte in der Schule schlechte Noten bekommen und ist deswegen in Panik geraten«, antwortete Staudt. »Aber dieses Problem haben wir in den Griff bekommen.«
    »Ist René mit dem Auto weggefahren?«, fragte sie weiter.
    Staudt schüttelte mit dem Kopf. »Er hat gar keinen Führerschein. Und ich glaube nicht, dass er schwarzfährt.«
    »Gut, dann ist die Chance, dass ihn jemand gesehen hat, um einiges größer«, meinte Winterberg. »Ich denke da an Busfahrer, Zugschaffner oder Autofahrer, die ihn vielleicht mitgenommen haben. Sie brauchen übrigens nicht zu befürchten, dass wir den Fall auf die leichte Schulter nehmen, auch wenn René schon volljährig ist. Alle Streifenwagen wurden über sein Verschwinden informiert und bekamen eine Personenbeschreibung von ihm.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher