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Knochen zu Asche

Knochen zu Asche

Titel: Knochen zu Asche
Autoren: Kathy Reichs
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Winter, unsere Poesie, unsere kindlichen Ansichten über das, was in den Nachrichten kam. Biafra. Warum schickten andere Länder diesen Leuten keine Lebensmittel? My Lai. Brachten Amerikaner wirklich unschuldige Frauen und Kinder um? Chappaquiddick. Haben auch Prominente solche Probleme? Wir machten uns Gedanken über Schuld oder Unschuld von Jeffrey MacDonald. Konnte ein Mann so schlecht sein, dass er seine eigenen Kinder umbrachte? Das Böse des Charlie Manson. War er der Teufel? Wir strichen die Tage bis zum Sommer auf unseren Kalendern aus.
    Das Schuljahr endete in Charlotte früher als in Tracadie, so war ich immer die Erste auf Pawleys Island. Eine Woche später rollte Madame Landrys verrosteter Ford Fairlane über den
Damm. Laurette verbrachte eine Woche bei ihrer Schwester und ihrem Schwager in deren kleinem Haus in den Marschen und kehrte dann zu ihren Jobs in einer Hummerkonservenfabrik und in einem Touristenmotel zurück. Im August wiederholte sie dann die lange Fahrt.
    In der Zwischenzeit lebten Évangéline, Obéline, Harry und ich unsere Sommerabenteuer. Wir lasen, wir schrieben, wir redeten, wir erkundeten. Wir sammelten Muschelschalen. Ich lernte einiges über das Fischen als Lebensunterhalt. Ich lernte ein wenig schlechtes Französisch.
    Unser fünfter Sommer begann wie die vorangegangenen vier. Bis zum 26. Juli.
    Psychologen sagen, dass sich einige Daten für immer ins Gedächtnis einprägen. 7. Dezember 1941. Der japanische Angriff auf Pearl Harbor. 23. November 1963. Das Attentat auf Präsident Kennedy. 11. September 2001. Das World Trade Center in Flammen.
    Auf meiner Liste steht auch der Tag, an dem Évangéline verschwand.
    Es war ein Donnerstag. Die Landry-Kinder waren seit sechs Wochen auf der Insel und sollten noch einmal vier bleiben. Évangéline und ich hatten vor, schon früh an diesem Morgen zum Krabbenfangen zu gehen. Andere Details sind nur noch Fragmente.
    Ich radelte, das Krabbennetz quer über der Lenkstange, durch eine neblige Morgendämmerung. Ein Auto auf der Gegenfahrbahn, die Silhouette eines Mannes hinter dem Steuer. Onkel Fidèle? Ein schneller Blick nach hinten. Auf dem Rücksitz noch eine Silhouette.
    Das Tick-Tick-Tick von Kieseln, die ich an das Fliegengitter vor Évangelinés Fenster warf. Euphémies Gesicht in einem schmalen Türspalt, die Haare mit Klemmen festgesteckt, die Augen rot, die Lippen leichenblass.
    Sie sind weg. Du darfst nicht mehr hierherkommen.

    Wohin sind sie, ma tante?
    Geh weg.Vergiss sie.
    Aber warum?
    Sie sind jetzt gefährlich.
    Dann die Rückfahrt, kräftiges Strampeln, Tränen auf den Wangen, in einiger Entfernung ein Auto, das vom Nebel auf dem Damm verschluckt wurde. Weg? Ohne Ankündigung? Ohne Abschied? Kein »Ich schreibe dir«. Komm nicht mehr hierher? Vergiss sie?
    Meine Freundin und ihre Schwester verbrachten nie mehr einen Sommer auf Pawleys Island.
    Ich fuhr wieder und wieder zu dem kleinen Haus in den Marschen und bettelte um Nachrichten, doch immer wurde ich abgewiesen. Tante Euphémie und Onkel Fidèle sagten mir nichts, sondern wiederholten nur immer wieder: »Geh weg. Sie sind nicht hier.«
    Ich schrieb einen Brief nach dem anderen. Einige kamen als unzustellbar zurück, andere nicht, aber nie kam eine Antwort von Évangéline. Ich fragte Grandma, was ich tun könnte. »Nichts«, sagte sie. »Gewisse Ereignisse können ein ganzes Leben verändern. Denk dran, du bist aus Chicago weggegangen. «
    Voller Verzweiflung schwor ich mir, sie zu finden. Nancy Drew, die jugendliche Detektivheldin meiner Kindertage, hat es auch geschafft, dachte ich mir. Und ich versuchte es auch, so sehr, wie eine Zwölfjährige es konnte, als es noch kein Handy und kein Internet gab. Für den Rest dieses Sommers und einen Großteil des nächsten spähten Harry und ich Tante Euphémie und Onkel Fidèle aus. Wir erfuhren rein gar nichts.
    Auch in Charlotte probierten wir es weiter. Die Büchereien in unserer Reichweite hatten zwar keine Telefonbücher für New Brunswick, Kanada, aber immerhin fanden wir die Vorwahl für Tracadie-Sheila heraus. In dieser Region gab es mehr Landrys, als die Vermittlung ohne Vornamen sortieren konnte.

    Laurette.
    Kein Eintrag. Zweiunddreißig L. Landrys.
    Weder Harry und ich konnten uns erinnern, dass Évangéline je den Namen ihres Vaters erwähnt hätte.
    Dann die Erkenntnis. Trotz all der langen Tage, die Évangéline und ich über Jungs, Sex, Longfellow, Green Gables oder Vietnam geredet hatten, hatten wir, wie in
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