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Knochen zu Asche

Knochen zu Asche

Titel: Knochen zu Asche
Autoren: Kathy Reichs
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blieb es die nächsten vier Jahre.
    Bis Évangéline verschwand.

2
    Ich wurde im Juli geboren. Für ein Kind ist das gleichermaßen gut und schlecht.
    Da ich alle meine Sommer im Strandhaus der Lee-Familie auf Pawleys Island verbrachte, wurden meine Geburtstage immer mit einem Picknick und einem Ausflug in den Gay-Dolphin-Park an der Myrtle-Beach-Promenade gefeiert. Ich liebte diese Stunden im Vergnügungspark, vor allem die Fahrten mit der Wild Mouse, auf der ich – mit klopfendem Herzen, die Hände um die Haltestange gekrallt, dass die Knöchel weiß wurden – in die Höhe sauste und in die Tiefe stürzte, bis mir die Zuckerwatte hochkam.
    Wirklich klasse. Aber so konnte ich nie Geburtstagstörtchen in die Schule mitnehmen.
    Ich wurde acht in dem Sommer nach Daddys Tod. Mama schenkte mir ein pinkfarbenes Schmuckkästchen mit einer Spieluhr und einer tanzenden Ballerina. Harry malte ein Familienporträt,
zwei große und zwei kleine Strichmännchen, die Finger ausgestreckt und sich überkreuzend, auf keinem Gesicht ein Lächeln. Grans Geschenk war ein Exemplar von Lucy Maud Montgomerys Anne auf Green Gables.
    Zwar bereitete Grandma auch in diesem Jahr das traditionelle Picknick aus Schokoladenkuchen, Brathähnchen, gekochten Shrimps, Kartoffelsalat, gefüllten Eiern und Keksen vor, aber nach der Völlerei gab es keine Achterbahnfahrt. Harry bekam einen Sonnenbrand und meine Mama Migräne, und so blieb ich allein am Strand und vertiefte mich in Annes Abenteuer mit Marilla und Matthew.
    Zuerst bemerkte ich sie gar nicht. Irgendwie ging sie im weißen Rauschen der Brandung und der Seevögel unter. Als ich den Kopf hob, stand sie weniger als zehn Meter von mir entfernt, die Hände an die Hüften gestemmt, die dünnen Arme abgespreizt.
    Wortlos musterten wir einander. Ihrer Größe nach war sie ein oder zwei Jahre älter als ich, auch wenn ihre Taille noch babydick war und ihr Badeanzug sich flach um ihre Brust spannte.
    Sie machte als Erste den Mund auf. Mit dem Daumen auf mein Buch zeigend, sagte sie: »Ich war da.«
    »Warst du nicht«, sagte ich.
    »Ich hab die Königin von England gesehen.« Der Wind fuhr ihr in das dunkle Gestrubbel auf ihrem Kopf, hob Strähnen an und ließ sie wieder fallen wie jemand, der sich in einem Geschäft bunte Bänder aussucht.
    »Hast du nicht«, sagte ich und kam mir sofort blöd dabei vor. »Die Königin lebt in einem Palast in London.«
    Das Mädchen wischte sich Locken von den Augen. »Ich war da. Mein grand-père hat mich hochgehoben, damit ich sie sehen konnte.«
    Ihr Englisch hatte einen eigentümlichen Akzent, weder das flache Näseln des Mittleren Westens noch der rundvokalig gedehnte
Singsang der südöstlichen Küste. Ich zögerte, war mir unsicher.
    »Wie hat sie ausgesehen?«
    »Sie hat Handschuhe getragen und einen lila Hut.«
    »Wo war das?« Skeptisch.
    »Tracadie.«
    Das gutturale »r« klang für mein achtjähriges Ohr sehr aufregend.
    »Wo ist das?«
    »En Acadie.«
    »Noch nie gehört.«
    »Das ist der Urwald. Murmelnde Kiefern und Schierling.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und blinzelte nur zu ihr hoch.
    »Das ist ein Gedicht.«
    »Ich war im Art Institute in Chicago«, sagte ich, weil ich das Gefühl hatte, Poesie mit etwas ähnlich Hochgestochenem kontern zu müssen. »Da gibt’s viele berühmte Bilder, wie das mit den Leuten im Park, die mit lauter Pünktchen gemalt sind.«
    »Ich wohne bei meiner Tante und meinem Onkel«, sagte das Mädchen.
    »Ich bin zu Besuch bei meiner Großmutter.«Von Harry oder Mama sagte ich nichts. Oder von Kevin. Oder Daddy.
    Ein Frisbee segelte zwischen dem Mädchen und dem Ufer in den Sand. Ich sah zu, wie ein Junge es aufhob und zurückwarf.
    »Green Gables kann man nicht in echt besuchen«, sagte ich.
    »Doch, kann man schon.«
    »Das gibt’s nicht in echt.«
    »Gibt es schon.« Das Mädchen zog einen braunen Zeh durch den Sand.
    »Ich hab heute Geburtstag«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

    »Bonne fête.«
    »Ist das Italienisch?«
    »Französisch.«
    Meine Schule in Beverly hatte Französisch angeboten, das Lieblingsprojekt einer frankophilen Nonne namens Schwester Mary Patrick. Auch wenn meine Kenntnisse damals kaum über »Bonjour« hinausreichten, merkte ich doch, dass dieses Mädchen ganz anders klang als die Französischlehrerin, die ich in der ersten und zweiten Klasse gehabt hatte.
    Einsam? Neugierig? Bereit, mir alles anzuhören, was mich von der Trübsal in Grandmas großem Haus ablenkte?
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