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Kleine Verhältnisse

Kleine Verhältnisse

Titel: Kleine Verhältnisse
Autoren: Franz Werfel
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Mann, an Hugo:
    »Befassen Sie sich mit technischen Dingen?« Der Knabe spürte den bedrückenden Raum um sich, den Raum der Fremdheit, der jetzt überfüllt zu sein schien von Menschen, von ihren Sorgen, Lügen, Hinterhältigkeiten. Zugleich aber war es eine merkwürdig süße Befriedigung, daß ihn Albert, der leidende Mensch, durch sein Vertrauen auszeichnete. Ob er sich mit technischen Dingen befasse? Schuldbewußt gedachte Hugo der Elektrisiermaschine und des anderen physikalischen Spielzeugs, das ungenützt in einem seiner Wandkästen lag. Doch hätte er um alles in der Welt dies dem Techniker Albert nicht eingestehen mögen, daß er die einzig wichtigen und manneswürdigen Realien zugunsten seiner Lesewut vernachlässige. So hauchte er denn ein lügnerisches: »Ja.«
    Darauin kommandierte Albert: »Bring das Modell, Mutter.« Frau Tappert erschrak und zögerte, denn sie war gerade dabei, die Teller des Mittagessens auf den Tisch zu stellen. Alberts Gesicht verzerrte sich, er schloß die Augen. Da stellte die Mutter eilig alles hin, kniete nieder und zog aus einer Lade ein großes Gewirr von Drähten, Spulen, Rädern, Batterien hervor, das sie sorgfältig auf den Tisch hinbreitete. Nun befand sich ein neues unverständliches Wesen in dem überfüllten Raum. Albert dachte nicht daran, Sinn und Zweck seiner Erfndung klarzulegen. Mühsam erhob er sich und trat mit dem belästigten Gesicht eines Virtuosen, dem man eine unerwünschte Zugabe abzwingt, an den Tisch. Mit müden Händen begann er das Ding in Ordnung zu bringen. Kaum aber hatte er die ersten Grife getan, als er schon die Arbeit unterbrach und an Hugo die Frage stellte: »Sie wissen natürlich, was Wechselströme sind?« Hugo schlug die Augen nieder und schwieg. Wechselströme? Jeder dieser erwachsenen Herren besaß einen Sack voll ungewöhnlicher Worte: Papa, Zelnik, Tittel und nun auch Albert. Unter all diesen Worten stellte sich Hugo mancherlei vor, aber man konnte es nicht aussprechen. Was seit einer Stunde ihm kalt und heiß über den Rücken lief, vielleicht war dies ein Wechselstrom. Oh, dieses Zimmer hier war voll von Wechselströmen. Albert aber kümmerte sich nicht um diese heimlichen Überlegungen, sondern wiederholte, sehr spöttisch, seine Frage:
    »Sie wissen also nicht, was Wechselströme sind?« Der Geprüfte senkte den Kopf immer tiefer, fühlte aber den Strom von Lebensvorwurf, ja Haß, der aus des Krüppels Blick ihn traf:
    »Wenn Sie diesen einfachen Begrif nicht kennen, ist natürlich alles umsonst. Aber ein junger Mann in Ihrem Alter und in Ihren Verhältnissen müßte eigentlich schon wissen, was Wechselströme sind. Sie gehen ins Gymnasium, nicht wahr? Die Anfangsgründe der Elektrizität gehören zum Lehrstof der Unterklassen. Aber natürlich! Die jungen Herren aus den besten Kreisen haben keine Ahnung von der Induktion.«
    Er schien die ganze Erfnderei satt zu haben und schob mit einer Handbewegung alles zusammen. Und ohne sich umzusehen, herrschte er die Frauen an: »Was habt ihr beide vorhin gehabt?« Erna lachte: »Ich bitte dich, Albert …«
    Aber der Bruder schrie jetzt:
    »Gut! Ich weiß ja, daß ich hier der Niemand bin! Ich weiß ja, daß ich von euch nur geduldet und ausgehal ten werde! Ihr seid zu gar nichts verpfichtet. Jeder Bissen, den ich esse, würgt mich. Aber es wird anders werden. Ihr sollt noch staunen. Bis dahin werde ich mich halt umsehen müssen …«
    Die letzten Worte hatte Albert jammernd gesprochen.
    Erna führte ihn zärtlich zu seinem Lehnstuhl zurück. Ihre Augen schimmerten, aber ihr Gesicht war fröhlich:
    »Es ist wirklich gar nichts, Albert … Wir haben doch nur ein bißchen getratscht, Mama und ich … Warum machst du dir so schlechte Gedanken, Albert? … Er sekkiert uns immer, Mama, was? … Aber jetzt los, Hugo! … Adieu, ich komm bald wieder … Und laß es dir gut gehn, Albert.«
    Frau Tappert, immer hin und her wandernd, als ginge sie die Szene nichts an, hatte den Suppentopf gebracht. Beim Abschied spürte Hugo, wie Alberts Hand vor Kränkung zitterte.
    An der Wohnungstür wartete schon die Mutter ängstlich. Das Mißtrauen des armen Sohnes war ihre Hölle. Sie füsterte zwar, aber Hugo konnte deutlich ihre Worte verstehen:
    »Komm heut nachmittag wieder … Er wird nicht zu Haus sein … Und in der nächsten Woche, … nun, wir wollen sehn … Ich spring am Abend zur Seifert hinüber … Hofentlich kannst du dir ein paar Tage Urlaub nehmen.«
    Wieder fnstere, krachende Holztreppen!
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