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Kleine Verhältnisse

Kleine Verhältnisse

Titel: Kleine Verhältnisse
Autoren: Franz Werfel
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der schöne Zelnik und der häßliche Tittel in eine einzige verzerrte Figur. Hüftenschlank und brillenblitzend näherte sie sich Fräulein Erna, die einen Krug unter die Wasserpalme des Springbrunnens hielt. Die Vision wurde von schweren Schritten unterbrochen. Albert kam heim.
    Erna hatte von ihrem Bruder einmal gesagt, er sei ein Krüppel, seitdem er mit zwölf Jahren die Kinderlähmung bekommen habe. Krüppel, das war ein furchtbares Wort, es kostete Überwindung, diese schamstachligen Silben auszusprechen. Warum hatte Albert die Kinderlähmung bekommen und Hugo nur den Scharlach ohne bleibende Folgen? Albert ging an Stöcken. Sein Beine gehorchten ihm nicht. Er mußte sie weit und mit Gewalt vom Leibe schleudern, dann erst felen die Füße hart auf und faßten Stand. Der junge Mann war mit leidenschaftlichem Eifer in das Problem seines mühsamen Ganges vertieft. Nichts anderes kümmerte ihn als sein Schritt, der laut den Boden stampfte. Er strebte zu dem Lehnstuhl am Fenster, dort blieb er stehen, nahm die beiden Stöcke in die rechte Hand und ließ sich nieder. Seine Stirn schimmerte feucht. Ein schweres Werk war getan. Jetzt erst bekam er Augen, blaue, ein bißchen lauernde, und erblickte seine Mutter und Erna, die aus der Küche getreten waren:
    »Na, Erna, das ist aber eine Auszeichnung! Ich hofe, daß es eine Auszeichnung ist und nichts Schlimmeres.« Das Fräulein stellte wiederum den Knaben vor: »Dies ist Hugo!«
    Albert deutete eine Bewegung an und sah spöttisch
drein:
»Dein Zögling, Erna, wie? …«
    Er reichte Hugo die Hand hin, der sie, zum Lehnstuhl gehend, mit einer Verbeugung erfaßte. Doch kaum war diese Begrüßung erfolgt, als sich Albert von Hugo wegwandte und das gerötete Gesicht der Schwester, den unsicheren Blick der Mutter bemerkte:
    »Was habt ihr?« fragte er.
    Frau Tappert begann ihren sinnlos sorgenden Rundgang durchs Zimmer, währenddessen sie mit der Schürze über die Kanten der Möbel fuhr und den Standort einiger Dinge vertauschte. »Ach was», brummte sie, »gar nichts haben wir. Was sollen wir denn haben?« Mit eiligen, schuldbewußten Fingern steckte Erna ihrem Bruder eine Schachtel mit Ziga retten in die Tasche. Albert tat, als merke er es nicht, wurde rot, bekam eine unwillige, ja gehässige Miene, beherrschte sich aber.
    In dieser Sekunde überkam den Knaben ein sonderbares Erlebnis. Er versenkte sich in Alberts Gesicht, er verglich sein mit Ernas Antlitz. Unendlich ähnlich war eines dem andern. Dasselbe Haar, derselbe schwerfällige Mund, bei Erna stumm, bei Albert trotzig. Da gewann Hugo diesen abweisenden, gar nicht freundlichen Menschen auf einmal stürmisch lieb. Dies war aber noch nicht das Wesentliche. Etwas ganz und gar Verrücktes trat hinzu. Hugo liebte und bewunderte Albert plötzlich, weil er ein Krüppel war. Eine blitzschnelle abgründige Empfndung: Der Leidende ist mehr wert als der Glückliche. Erna und Frau Tappert behandeln den Albert wie einen bedeutenden oder vornehmen Mann. Gebrechen, das ist etwas Hervorragendes, fast Heiliges. Blitzschnelle, abgründige Empfndung, wohlgemerkt, und kein Gedanke! Aber diese Empfndung sollte Hugo durchs Leben begleiten, ohne daß er später ahnte, aus welcher Stunde sie stammte.
    So tief hatte sich Hugo in Alberts Gesicht verloren, daß er es gar nicht bemerkt hatte, daß Erna dem Bruder seine Vortragskunst und sein Gedächtnis rühmte. Er war immer wieder erstaunt darüber, wie demütig die schöne Schwester, die doch dieser Familie all ihren Verdienst hingab, um die Gunst des Krüppels buhlte. Albert wandte sich an Hugo:
    »Als ich so alt war wie Sie, habe ich Ingenieur werden
wollen.«
Seine Mutter fügte stolz hinzu:
    »Ehe er das Unglück hatte, war er in der Realschule immer der Beste. Sein Vater war aber auch ein sehr gebildeter Mensch … Bei der Eisenbahn.« Albert unterbrach sie wütend: »Schweig, Mutter!« Hugo blinzelte zu dem rangältesten Toten hinauf, der seine rosagemalte Faust auf dem verschnörkelten Tisch ohnmächtig zu ballen schien. Erna aber bemühte sich immer schmeichlerischer um ihren Bruder: »Was macht deine neue Erfndung?«
    Albert hielt eine Antwort für überfüssig. Ernas Gesicht zeigte – als wäre alles Unglück vergessen – einen kleinen Zug von Prahlerei, als sie jetzt nachdrücklich Hugo belehrte:
    »Du mußt wissen, er ist ein großer Erfnder und besitzt schon zwei Patente! …«
    Mit geringschätziger Ungeduld überhörte Albert das weibliche Lob und wandte sich, Mann zu
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