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Kleine Verhältnisse

Kleine Verhältnisse

Titel: Kleine Verhältnisse
Autoren: Franz Werfel
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bleibst bei mir.«
    Ernas Lippen schlössen sich noch immer nicht, als wären sie willig zu reden. Hugo fühlte mit ruhevoller Seligkeit, wie ihr schönes großes Gesicht, ihr glorreiches, vom Waschen wolkiges Haar ihm näher kam, sich immer tiefer zu ihm herabbeugte. Erna aber sagte nur »Gute Nacht, Hugo« und küßte ihn sanft auf den Mund.
    Dieser Kuß war nichts als ein stärkerer Anhauch des Kamillenduftes. Sie ging. Das Blau des langen Gewandes spielte um ihren wirklich schreitenden Sandalen-Schritt. In der dunkleren Ferne des Raumes schien sie von übergroßer Gestalt zu sein. Nun verschwand sie und schloß die Tür hinter sich. Das erstemal, seitdem sie im Hause lebte, schloß sie am Abend die Tür hinter sich.
    Längst war es schon fnstere Nacht. Hugo schlug sich mit einem widerspenstigen Gedanken herum. Dieser Gedanke hatte nicht nur mit kleinen Verhältnissen und Alberts Erfndungen zu tun, sondern auch mit Papas Sammlung und dem Gymnasium. In diese ziemlich wachen Gedanken mischten sich peinigende Bilder. Papa bewältigte mit seiner grandiosen Vornehmheit spielend alle Aufgaben des Lebens, während Hugo tatenlos und ungeschickt an ihnen scheiterte. Beide, Hugo und Papa, schwammen im Meer, Papa mit leichten sicheren Stößen, Hugo hingegen kam nicht vom Fleck. Nicht anders erging es ihm mit dem Geräteturnen und dem Kopfrechnen. Der Knabe warf sich im Bette hin und her. Wie widerwärtig war dieser Zustand unfertiger, tückisch fiehender Vorstellungen!
    Da spürte er – und sein Herz erstarrte –, daß er nicht allein in seinem Bette liege. Ganz klein machte er sich. Aber das nützte nichts, denn das andere war unabwendlich da, neben ihm, weich, riesig, warm. Es atmete. Sein glühender Hauch traf mit gleichmäßiger Woge seinen Nacken. Kein Zweifel, es lag in seinem Rücken. Wehe, und jetzt berührte es ihn, jetzt preßte es sich an ihn, dieses Übermächtige, Glutheiße, Nackte: Das Weib! Erna! Hugo wollte aufschreien: »Was willst du? Ich bin ja wach!!« Aber die gräßliche Wonne verbiß sich in seinen Leib und würgte ihn. Er schlug um sich. Es gelang ihm, für einen Augenblick die kamillenduftende Umstrickung abzuschütteln. Er foh durch Straßen und Gassen der Heimatstadt. Aber sogleich hielt ihn das Übermächtige, Glutheiße, Atmende wieder umschlungen. Wie er auch lief, es preßte ihn herrlich und schrecklich an sich, immer gleich nahe, immer gleich brennend. Und jetzt stieß ihn Erna mit ihren nackten Armen und Brüsten vor sich her in einen dunklen Hausfur. Im Schatten des großen Kreuzes sank er zusammen. Nun mußte er sterben, denn sein Blut foß.
    Mit dem Schrei: »Ich schlafe ja nicht!« war Hugo aus dem Bett gesprungen. Er stand im gänzlich entfremdeten Zimmer. Lange konnte er sich nicht orientieren. Wo lagen nur die Fenster? Ach ja, dort, das mußte die Tür sein. Kein Lichtspalt! Sie war geschlossen. Zitternd kroch er in sein Bett zurück, das nicht mehr sein altes Bett war, sondern eine lockende und gefährliche Höhle.

    Als Hugo am nächsten Morgen erwachte, sah er Mama in seinem Zimmer. Sie hatte eben die Läden geöfnet und lachte ihn an:
    »Aufstehn, mein Herr! Genehmigen Sie bitte gnädigst meine Anwesenheit! Fräulein Erna hat für einige Zeit Urlaub genommen. Wir werden also jetzt aufeinander angewiesen sein. Ich bitte um eine möglichst schonende Behandlung.«
    Hugo sagte nichts, sondern machte Miene, sich umzudrehn und von neuem einzuschlafen. Aber Mama drängte ihm schon seine Strümpfe auf:
    »Ernsthaft, Hugo, beeil dich! Unten wartet schon Herr Doktor Blumentritt auf dich. Ein prachtvoller Kerl, und ein junger Mensch noch! Ich hab mich be reits mit ihm eine ganze Weile glänzend unterhalten, sag ich dir!«
    Hugo sah unbeweglich zu Boden. Er ist noch schlaftrunken, dachte Mama. Sie eiferte ihn an. Er verzog nicht den Mund, er fragte nicht, wann Erna zurückkehren werde. Langsam begann er sich anzukleiden.
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    Spendenkreis Literatur
    »›Kleine Verhältnisse‹ möchte man eine Schlüsselgeschichte zu Werfels Prosa nennen, die sich aus dem Verhältnis seiner Kindheit … am vollkommensten erschließt.« Johannes Urzidil

    »Werfel rührt uns da an, wo wir am empfndlichsten sind, in unserer Angst, in unserem Bedürfnis nach Geist und Liebe.« Luise Rinser
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