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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede
Autoren: Anne Tyler
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eigentlich
sollte sie sich schämen, wie begeistert sie darüber war, und wie glücklich, wie
zufrieden.
     
     
     
    2 Das Dumme an Plastiktüten war,
daß sie praktische Henkel hatten, was dazu verführte, zu viele Tüten auf einmal
zu tragen. Delia hatte das vergessen. Auf halbem Weg im Vorgarten fiel es ihr
ein, als ihr die Finger vom Krümmen weh taten. Sie hatte nicht hinterm Haus
parken können, weil irgendein Kombi die Einfahrt versperrte. Es gab zwar ein
rostiges Blechschild am Stamm der dicksten Eiche, das die Patienten zum Parken
auf der Straße aufforderte, doch das wurde gern übersehen.
    Sie ging vorn an der Veranda
vorbei und bahnte sich seitlich einen Weg durch das Gestrüpp aus verblühten
Forsythien. Das Haus war groß, aber schäbig, sein braunes Holz stockfleckig,
und die Fensterläden klafften, wo die Riegel im Laufe der Jahre abgefallen
waren. Delia hatte nie woanders gewohnt. Ihr Vater übrigens auch nicht. Ihre
Mutter, die eigentlich von der Chesapeake-Bay-Küste stammte, war an einem
Nierenleiden gestorben, als Delia noch zu klein war, um sich daran zu erinnern.
So wuchs sie unter der Obhut ihres Vaters und ihrer beiden älteren Schwestern
auf. Delia hatte auf dem Tafelparkett im Flur Hüpfstein gespielt, wenn ihr
Vater in der verglasten Veranda neben der Küche seine Patienten versorgte, und
sie hatte seinen Assistenzarzt unter dem ausladenden Messingkronleuchter geheiratet,
einem Monstrum, das sie bis zum heutigen Tage an eine große Spinne erinnerte.
Selbst nach der Hochzeit war sie nicht weggezogen, sondern hatte ihren Mann
einfach in ihrem Jungmädchenzimmer untergebracht, und als sie dann Kinder
hatte, war es an der Tagesordnung, daß ein Patient aus dem Wartezimmer
spazierte und rief: »Delia? Wo bist du, Schätzchen? Ich wollte nur mal sehen,
wie es den süßen Kleinen geht.«
    Der Kater hockte auf der
Hintertreppe und maunzte sie vorwurfsvoll an. Sein kurzes graues Fell klebte an
manchen Stellen feucht. »Habe ich es nicht gesagt?« Delia schimpfte und ließ
ihn hinein. »Habe ich dich nicht gewarnt, das Gras ist noch naß?« Ihre Schuhe
waren vom Gang über die Wiese durchweicht, die dünnen Sohlen kalt und pappig.
Sie zog sie gleich in der Küche aus. »Na, hallo!« begrüßte sie ihren Sohn. Er
räkelte sich im Schlafanzug am Tisch und strich Butter auf einen Toast. Sie
stellte ihre Tüten auf die Arbeitsplatte und sagte: »Ich staune, du bist ja
schon wach!«
    »Mir blieb auch nichts anderes
übrig«, erklärte er schlecht gelaunt.
    Er war der Jüngste, und sie
hatte immer gefunden, daß er ihr am stärksten glich (mit hellbraunem Haar wie
Drahtwolle, seinem blassen Sommersprossen-Gesicht und den violetten
Augenschatten), doch im vergangenen Monat war er fünfzehn geworden, und mit
einemmal sah sie in ihm Sam. Er war fast einsfünfundachtzig, und sein spitzes
Kinn war plötzlich kantig; seine muskulösen Hände wirkten beängstigend
zupackend. Selbst wie er das Messer hielt, strahlte neue Autorität aus.
    Auch seine Stimme war die Sams:
tief, aber klar, nicht brüchig und kieksig wie die seines Bruders früher.
»Hoffentlich hast du Cornflakes gekauft«, meinte er.
    »Wieso, nein, ich — «
    »Ach, Mutter!«
    »Wart’s ab, bis du weißt, warum
nicht«, sagte sie. »Das Komischste, was ich je erlebt habe, Carroll! Ein echtes
Abenteuer. Ich stehe in der Gemüseabteilung, vollkommen in Gedanken — «
    »In diesem Haus gibt’s kein
einziges bißchen Anständiges zu essen.«
    »Also eigentlich frühstückst du
samstags nie.«
    Er sah sie finster an. »Erzähl
das mal Ramsay«, sagte er.
    »Ramsay?«
    »Er hat mich schließlich
geweckt. Poltert am hellichten Tag ins Zimmer, die ganze Nacht mit seiner
Freundin unterwegs. Danach hab ich kein Auge mehr zugekriegt.«
    Delia begutachtete die Einkaufstüten.
(Sie wußte, worauf dieses Gespräch hinausführte.) Sie begann darin
herumzustöbern, als könnten die Cornflakes schließlich doch noch zum Vorschein
kommen. »Laß dir lieber von meinem Abenteuer berichten«, sagte sie über die
Schulter. »Aus heiterem Himmel steht dieser Mann neben mir... gutaussehend? Er
sah aus wie mein allererster Freund, Will Britt. Ich glaube, von Will habe ich
dir noch nie erzählt.«
    »Ma«, sagte Carroll. »Wann darf
ich endlich in das Zimmer gegenüber ziehen?«
    »Oh, Carroll.«
    »Kein Mensch, den ich kenne,
muß mit seinem Bruder in einem Zimmer wohnen.«
    »Nun mach aber einen Punkt.
Jede Menge Leute auf der Welt wohnen mit ganzen Familien in einem
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