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Klassenziel (German Edition)

Klassenziel (German Edition)

Titel: Klassenziel (German Edition)
Autoren: T. A. Wegberg
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schwänzen und direkt nach der vierten Stunde abzuhauen. Ich wollte meine Freunde sowieso mal zu mir nach Hause einladen, das ist jetzt eine gute Gelegenheit. Außerdem brauchen wir dann nicht in der Mensa zu essen.
    Sie haben ein paar Bedenken, aber ich kann echt sehr überzeugend sein. Und das, obwohl ich noch nie in meinem Leben die Schule geschwänzt habe. Zu Hause kochen wir uns Spaghetti, Becky zaubert eine leckere Soße dazu. Im Kühlschrank finde ich eine angebrochene Flasche Weißwein, die wir zu viert schnell leer kriegen. Deshalb hole ich noch einen Rotwein aus der Vorratskammer.
    Die Stimmung ist entspannt, wir sind alle satt und träge und ein bisschen rührselig vom Alkohol. Ich finde, das ist der richtige Moment, um die ganze Wahrheit zu erzählen. Ein paarmal schlucke ich trocken und hole dann tief Luft. «Der Ort, wo ich vorher gelebt hab, heißt übrigens Viersen», sage ich. Und wie erwartet horchen sie alle drei auf. «Viersen?», wiederholt Becky. «Du meinst, wo dieser Amoklauf war?» Ich kann an ihren Gesichtern ablesen, dass sie begreifen.
    «O Mann – und du bist einer von den Überlebenden?», flüstert Luna.
    «Äh, nee. Eigentlich nicht. Also, doch, ich meine, ich glaub schon, dass ich noch lebe …» Mir läuft ein Schweißtropfen das Rückgrat runter. Ich weiß nicht richtig, wie ich weitermachen soll. Es ist schwieriger, als ich gedacht hatte.
    «Warst du denn auch auf dieser Schule, wo das passiert ist?», will Becky wissen. Ich bin erleichtert, dass sie von allein diese Frage stellt. «Ja. Aber nicht an dem Tag. Mein Bruder hat mich vorher woandershin gebracht und eingesperrt.»

    I ch blieb vor dem Kellerregal stehen und starrte auf das verschnörkelte Logo des französischen Winzers. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie mein Vater damit nach Hause gekommen war. Es war in der Adventszeit, schon dunkel draußen, die Weihnachtsbeleuchtung an den Fenstern eingeschaltet. Meine Mutter, Dominik und ich hatten Plätzchen gebacken. Das ganze Haus roch danach. Auf jeder freien Fläche standen Kuchengitter mit Sternen, Rentieren, Engeln und Tannenbäumen, die abkühlen sollten, bevor sie in die Blechdosen kamen.
    Mein Vater zeigte uns die Kiste und sagte, die wäre ganz viel wert. Da wären drei Flaschen Wein drin, die man in keinem Supermarkt kaufen könnte. «Wie teuer sind die denn?», fragte Nick.
    «Hm – alle zusammen bestimmt zweihundert Euro.»
    «Verkaufst du die?», wollte ich wissen.
    «Nein. Auf keinen Fall! Die bewahren wir auf, und irgendwann zu einem besonderen Anlass trinken wir die.»
    «Krieg ich dann auch was ab?»
    «Na klar. Du und Nick und Mama. Jeder kriegt ein Glas.»

[zur Inhaltsübersicht]
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    N atürlich habe ich Angst vor diesem Moment gehabt. Der Bruder eines Massenmörders zu sein ist wirklich nichts, worauf man stolz sein kann. Ich würde es ihnen nicht übelnehmen, wenn sie plötzlich auf die Uhr gucken und sagen: «Ups, schon so spät … Jetzt muss ich aber wirklich los!», und sich am Montag in der Schule woandershin setzen. Ich wäre nicht mal überrascht. Im Grunde wäre das eine ganz normale Reaktion.
    Aber das Gute an meinen neuen Freunden ist ja, dass sie eben nicht normal sind. Luna nimmt meine Hand, genau wie ich letzten Sonntag ihre genommen habe. Becky legt mir den Arm um die Schultern. Und Kenji steht von seinem Stuhl auf, kommt zu mir rüber und zieht meinen Kopf an seine Brust (was er nur deshalb tun kann, weil ich sitze und er steht). Überall, wo unsere Körper sich berühren, fließt warme Energie in mich rein.
    Dann kommen die Fragen. Aber das sind nicht so Fragen, wie die Journalisten sie gestellt haben, sondern darin geht es immer nur um mich. Wie ich mich gefühlt habe. Wie ich damit fertigwerde. Ob ich meinen Bruder vermisse oder wütend auf ihn bin. Ob ich viele Freunde verloren habe. Ob ich Heimweh habe. Dabei halten sie mich die ganze Zeit fest und streicheln mich und küssen mich auf die Stirn und auf die Schläfe wie ein Baby. Normalerweise würde ich sie wegscheuchen, weil es mir peinlich wäre. Bloß kommen gerade so viele Erinnerungen hoch, und ich bin viel zu aufgewühlt für Abwehr.
    Wir gehen rauf in mein Zimmer, und ich zeige ihnen das Video, auf dem Nick und ich in die Arme meiner Mutter rennen. Obwohl ich es schon so oft gesehen habe seit seinem Tod, ist es mir noch nie so unter die Haut gegangen. Ich fange an zu heulen. Luna gibt mir Taschentücher. Becky streicht mir über die Haare. Kenji legt den Kopf an meine
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