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Kinsey Millhone 02- In aller Stille

Kinsey Millhone 02- In aller Stille

Titel: Kinsey Millhone 02- In aller Stille
Autoren: Sue Grafton
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mich her. Ihre Augen leuchteten, und ihr Mund war zu etwas verzogen, das unter Wahnsinnigen als Lächeln durchgehen konnte. Ich bückte mich und bekam den Schlag diesmal auf die Schulter. Der Schmerz züngelte wie Flammen an mir hoch. Meine Finger umschlossen das Geländer. Ich klammerte mich an die Treppe, als ginge es um mein Leben. Eine helle Wolke verkleinerte meine Sehfähigkeit auf einen Punkt, und ich wußte, wenn sich dieses Loch geschlossen hatte, war ich tot. Ich sog Luft ein, schüttelte den Kopf und bemerkte erleichtert, wie die Dunkelheit zurückströmte.
    Ich zog meine rechte Faust an. Mit einem leisen Schrei stieß ich mich ab und schnellte mit ganzer Kraft vor. Ich traf, und der Schlag fuhr den ganzen Weg zurück und meinen Arm hinauf. Ich fühlte, wie der Schmerz einen Bogen von meinen zertrümmerten Fingerknöcheln zu ihrem Gesicht schlug, und sie gab ein leises Geräusch von sich, das mir gefiel. Sie torkelte zurück, und ich stürzte mich auf sie und nahm sie so in den Schwitzkasten, daß ich ihr die Kehle zudrückte. Ich schwenkte sie zur Seite und ließ sie nicht ins Gleichgewicht kommen, wobei ich gleichzeitig rückwärts ging, so daß sie nicht auf die Füße geraten konnte. Sie wurde von ihrem eigenen Gewicht festgehalten. Dann nahm ich all meine Kräfte zusammen und konzentrierte mich darauf, das V meines Arms zu verengen, in dem ihr Hals gefangen war. Ich hörte einen lauten Knall, und einen Moment lang dachte ich, ich hätte ihr das Genick gebrochen. Sie sackte zu Boden. Ich ließ meinen Griff locker, um nicht auf sie gezogen zu werden. Verdutzt sah ich zu ihr hinab, dann schaute ich auf. Leonard stand da mit einem .22er, der jetzt auf mich gerichtet war.
    Marty schnaufte. »Du hast mich angeschossen, du Idiot.« Ihre Stimme war heiser.
    In stummer Überraschung wandte Leonards Blick sich ihr zu.
    Ich trat zurück. Die Kugel hatte sie in der Seite erwischt; keine tödliche Wunde, aber eine, die ihr ein bißchen Respekt beigebracht hatte. Sie saß auf den Knien und drückte die Stelle. Das tat ihr weh, und vor Schmerz und Schande gab sie kleine Wehlaute von sich.
    Ich war erschöpft und schnappte immer noch nach Luft, aber ich fühlte die merkwürdige Heiterkeit des Sieges. Ich hatte sie fast getötet. Ich war Sekunden davon entfernt gewesen, ihren lebendigen Körper in einen ziemlich leichenmäßigen Zustand zu versetzen. Leonard konnte nicht richtig schießen, also hatte er sie niedergestreckt und damit den Spaß verdorben, aber die Schlacht gehörte mir. Ich wollte lachen, bis ich seinen Gesichtsausdruck bemerkte.
    Der Wahnsinn, der mich in den letzten paar Minuten beherrscht hatte, schwand, und mir wurde klar, daß meine Schwierigkeiten wieder von vorn anfingen. Ich war tot bei lebendigem Leib. Irgendwie hatte ich einen Schlag genau auf den Mund abbekommen, und ich schmeckte Blut. Ich war scharf darauf, nachzusehen, ob ein Zahn ausgebrochen war, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Ein blöder Zeitpunkt, um sich Sorgen über eine mögliche Krone zu machen, doch genau das tat ich.
    Ich versuchte, aufmerksam zu bleiben, aber das war sehr schwierig. Ich hatte dieses verrückte Verlangen, mit Marty auf dem Boden herumzukriechen, und wir beide würden schnaufen wie verwundete Tiere und nach einem Weg suchen, uns wegzuschleppen und zu verstecken. Ich mußte mich bald um Leonard kümmern. Es war schon viel zu viel Zeit vergangen, und ich wußte, daß ich an Boden verlor.
    Ausdrucksvoll starrte er mich an. Ich wußte sowieso nie, wie ich seine Miene deuten sollte.
    »Los, Leonard. Geben wir’s auf.«
    Er sagte nichts. Ich versuchte im Plauderton zu sprechen, als ob ich jeden Tag einen Teil meiner Zeit damit zubrächte, Leuten auszureden, mich zu erschießen.
    »Ich bin müde, und es ist spät. Gehen wir heim. Sie braucht Hilfe.«
    Fehlanzeige. Marty schien sich aufzuraffen, ganz auf ihn konzentriert. Sie stellte im Moment keinerlei Bedrohung mehr dar, aber er schwankte hin und her. Vielleicht probierte er die merkwürdigen neuen Empfindungen aus, die der Umgang mit dem Tod mit sich brachte, so wie ich es getan hatte.
    »Erschieß die Nutte«, keuchte sie ihm zu. »Schieß!«
    Ich sammelte jedes letzte bißchen Stärke, das ich noch hatte, und nahm mich zusammen. Er schoß auf mich, als ich mich vorwärts bewegte, aber da wurde ich schon von meinem eigenen Schwung weitergetragen. Gellend schrie ich »Nein!« und trat ihn so fest in die Kniescheibe, daß ich es knacken hörte. Er fiel hin
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