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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Autoren: Bernard Minier
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Haufen Nullen“, sagte der Mann, als sich Servaz neben ihm den Hosenschlitz aufknöpfte. „Eine Schande, was die da aufführen.“
    Er zog seinen Hosenschlitz zu und ging hinaus, ohne sich die Hände zu waschen. Servaz seifte die seinen ein, spülte sie lange und trocknete sie unter dem Gebläse. Bevor er die Klinke anfasste, die der Mann gerade berührt hatte, zog er sich den Ärmel über die Hand und verließ das WC.
    Ein kurzer Blick auf den Bildschirm verriet ihm, dass sich in seiner Abwesenheit nichts getan hatte, obwohl sich das Spiel seinem Ende zuneigte. Die Zuschauer waren nur noch ein vor Frust brodelnder Vulkan. Wenn das so weiterging, überlegte Servaz, würde es noch Krawalle geben.
    Die Leute um ihr herum brüllten Worte wie „Los!“, „Jetzt gib schon den Ball ab, Mann, gib ihn ab!“, „nach rechts, nach reeeeeechts!“ - ein Anzeichen dafür, dass sich endlich etwas tat, als er in seiner Tasche ein vertrautes Vibrieren spürte. Er zog sein Handy heraus. Kein Smartphone, sondern ein gutes altes Nokia-Standardgerät. Das Display leuchtete, ein Anzeichen, das sich auch hier etwas tat. Der Anruf war bereits auf seine Mailbox umgeleitet worden.
    Servaz rief die Service-Nummer an.
    Erstarrte.
    Die Stimme im Telefon … Es dauerte eine halbe Sekunde, ehe er sie erkannte. Eine halbe Sekunde, die wie eine Ewigkeit war. Raum und Zeit, die sich zusammenzogen, als ob die zwanzig Jahre, seit er sie zum letzten Mal gehört hatte, mit zwei Herzschlägen zu überbrücken wären. Nach all dieser Zeit wurde ihm noch immer ganz mulmig, als er sie hörte.
    Alles begann sich um ihn zu drehen. Die Rufe, die Anfeuerungen, das Dröhnen der Vuvuzelas verhallten, verloren sich im Nebel. Die Gegenwart schrumpfte zusammen. Die Stimme sagte:
    „Martin? Ich bin‘s, Marianne … Ruf mich bitte an. Es ist sehr wichtig. Bitte, bitte ruf mich an, sobald du diese Nachricht abgehört hast …“
    Eine Stimme aus der Vergangenheit – und eine Stimme voller Angst.
     
    Samira Cheung warf die Lederjacke aufs Bett und betrachtete den Fettwanst, der rauchend an den Kopfkissen lehnte.
    „Verzieh dich, ich muss zur Arbeit.“
    Der Mann, der in ihrem Bett saß, war gut dreißig Jahre älter als sie; er hatte eine ordentliche Wampe und weiße Haare auf der Brust, aber das war Samira egal. Er besorgte es ihr gut – und das war alles, was für sie zählte. Sie selbst war auch keine Schönheit. Seit dem Gymnasium wusste sie, dass die meisten Männer sie hässlich fanden – oder genauer gesagt, ihr Gesicht für hässlich hielten, während sie von ihrem Körper beinahe unwiderstehlich angezogen wurden. In den seltsam zwiespältigen Empfindungen, die sie Männern einflößte, neigte sich die Waagschale bald zur einen, bald zur anderen Seite. Samira Cheung glich das aus, indem sie mit möglichst vielen Männern ins Bett ging; sie wusste schon länger, dass die bombigsten Typen nicht unbedingt die besten Liebhaber waren, aber genau nach denen suchte sie – nicht nach dem Märchenprinz.
    Das große Bett knarrte, als ihr dickbäuchiger Liebhaber die Laken zurückschlug, die Füße auf den Boden stellte und sich nach seinen Kleidungsstücken reckte, die ordentlich auf einem Stuhl in der Nähe eines Standspiegels lagen, in dem sich ein Teil des Dachbodens spiegelte. Spinnweben, Staub, an einem Balken ein Barock-Lüster, in dem nur jede zweite Glühbirne brannte, Bastteppiche, eine spanische Kommode und ein Schrank aus einem Trödelladen nahmen den Rest des Zimmers ein. Samira streifte sich eine Hose und ein T-Shirt über und verschwand durch eine Klappe im Fußboden.
    „Schnaps oder Kaffee?“, rief sie von unten.
    Sie schlüpfte in die rot gestrichene kleine Küche hinein, die durch ihre Enge an eine Schiffskombüse erinnerte, und schaltete die Portionskaffeemaschine an. Abgesehen von der nackten Glühbirne über ihr war das große Haus in Dunkelheit gehüllt. Und zwar aus gutem Grund. Samira hatte diese Ruine, zwanzig Kilometer von Toulouse entfernt, im Vorjahr gekauft. Sie renovierte sie nach und nach (sie wählte ihre gelegentlichen Liebhaber aus verschiedenen Berufsgruppen, darunter waren Elektriker, Installateure, Maurer, Maler, Dachdecker …) und nutzte gegenwärtig nur ein Fünftel der Wohnfläche.
    Alle Zimmer im Erdgeschoss standen leer und waren mit Kunststoffplanen verhängt, an den Wänden standen Gerüste, Farbeimer mit eingetrockneten Schlieren und Werkzeuge – im Obergeschosses sah es genauso aus, und so hatte sie bis auf
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