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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Autoren: Bernard Minier
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Der Schweizer war im Winter 2008/2009 aus dem Institut Wargnier entflohen, nur wenige Tage, nachdem ihn Servaz in seiner Zelle besucht hatte. Bei dieser Begegnung hatte er verblüfft zur Kenntnis genommen, dass der ehemalige Genfer Staatsanwalt und er eine gemeinsame Passion hatten: die Musik von Gustav Mahler. Und dann war der eine ausgebrochen, und der andere von einer Lawine verschüttet worden.
    Achtzehn Monate, dachte er. 540 Tage und ebenso viele Nächte, in denen er unzählige Male denselben Albtraum gehabt hatte. Die Lawine … Er war in einem Sarg aus Schnee und Eis begraben, die Atemluft wurde bedrohlich knapp und Arme und Beine durch die Kälte taub und starr, als ihn endlich eine Sonde berührte und jemand ungestüm den Schnee über ihm entfernte. Grelles Licht, das ihn blendete, frische Luft, die er mit offenem Mund tief einatmete, und ein Gesicht, eingerahmt in der Öffnung. Das Gesicht von Hirtmann … Der Schweizer lachte laut auf und sagte: „Adieu, Martin“ - und schüttete das Loch wieder zu …
    Es gab einige Variationen, aber der Traum endete immer mehr oder weniger genauso.
    In Wirklichkeit hatte er die Lawine überlebt. Aber in seinen Albträumen starb er. Und in gewisser Weise war in jener Nacht tatsächlich ein Teil von ihm gestorben.
    Was machte Hirschmann jetzt gerade? Wo war er? Servaz sah noch einmal erschauernd diese unvorstellbar majestätische Schneelandschaft vor sich … die Schwindel erregend hohen Gipfel hoch über einem abgelegenen Tal … das Gebäude mit den mächtigen Mauern … klirrende Riegel in menschenleere Gängen … Und dann die Tür, hinter der die vertraute Musik erklang: Gustav Mahler, Servaz‘ Lieblingskomponist – aber auch der von Julian Hirtmann.
    „Höchste Zeit“, sagte Pujol neben ihm.
    Servaz warf einen zerstreuten Blick auf den Bildschirm. Ein Spieler verließ das Feld, ein anderer löste ihn ab. Servaz glaubte zu verstehen, dass es sich um besagten Anelka handelte. Er sah in die linke obere Ecke des Bildschirms: 71. Minute – und noch immer 0: 0. Daher wahrscheinlich die Anspannung in der Bar. Ein korpulenter Kerl neben ihm, der um die 130 Kilo wiegen mochte und unter seinem roten Bart schweißnass war, klopfte ihm auf die Schulter, als wären sie alte Freunde, und blies ihm seine Alkoholfahne ins Gesicht:
    „Wenn ich Trainer wäre, würde ich ihnen in den Hintern treten, damit sich diese Wichser mal ein bisschen bewegen. Nicht mal bei einer WM wollen sie laufen.“
    Servaz fragte sich, ob sich sein Nachbar selbst wohl viel bewegte – wenn er sich nicht gerade hierher schleppte oder im Supermarkt an der Ecke Sixpacks kaufte.
    Er fragte sich, weshalb er keine Sportsendungen mochte. Etwa weil seine Ex-Frau, Alexandra, im Unterschied zu ihm kein Spiel ihrer Lieblingsmannschaft versäumte? Sie waren sieben Jahre lang zusammengewesen, obwohl Servaz vom ersten Tag an überzeugt gewesen war, dass ihre Beziehung nicht lange Bestand haben würde. Trotzdem hatten sie geheiratet und sieben Jahre durchgehalten. Er wusste noch immer nicht, wieso sie so lange gebraucht hatten, um das Offensichtliche zuzugeben: Sie passten so schlecht zusammen wie ein Taliban und ein Flittchen. Was war davon heute noch übrig? Außer einer achtzehnjährigen Tochter, auf die er allerdings sehr stolz war. Oh ja, und wie. Auch wenn er sich immer noch nicht an ihren Look, ihre Piercings und ihre Frisuren gewöhnt hatte, schlug sie ihm nach, nicht ihrer Mutter. Sie war eine Leseratte wie er, und wie einst er besuchte auch sie die renommierteste Khâgne in der Region. Marsac. Hier versammelten sich die besten Schüler aus einem Umkreis von hundert Kilometern – manche kamen sogar aus Montpellier oder Bordeaux.
    Wenn er genauer darüber nachdachte, musste er zugeben, dass ihn mit seinen 41 Jahren nur zwei Dinge im Leben wirklich interessierten: sein Beruf und seine Tochter. Und Bücher … Aber mit den Büchern war es etwas anderes, denn sie interessierten ihn nicht nur, sie waren sein Leben.
    Genügte das? Was für ein Leben führten die anderen? Er betrachtete den Boden seines Bierglases, wo nur noch Schaumspuren übrig waren, und er sagte sich, dass er für heute genug gebechert hatte. Es spürte plötzlich das dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen, und schlängelte sich durch die Menge zur Toilette. Sie war so verdreckt, dass es ihn ekelte. Ein glatzköpfiger Mann wandte ihm den Rücken zu, und Servaz hörte, wie sein Strahl gegen das Email des Pissoirs traf.
    „Was für ein
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