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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Autoren: Bernard Minier
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Marsac herein.
    Wie jeden Abend saß er auch heute an seinem Schreibtisch. Sein Arbeitszimmer lag im ersten Stock des Hauses, das seine Frau und er vor dreißig Jahren im Südwesten Frankreichs gekauft hatten: ein mit Eiche getäfelter Raum, dessen Wände fast vollständig mit Büchern bedeckt waren. Hauptsächlich britische und amerikanische Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts: Coleridge, Tennyson, Robert Burns, Swinburne, Dylan Thomas, Larkin, E. E. Cummings, Pound …
    Er wusste, dass er seinen Göttern niemals würde das Wasser reichen können, aber das machte ihm nichts aus.
    Niemals hatte er seine Gedichte irgendjemandem zu lesen gegeben. Der Herbst seines Lebens lag mittlerweile hinter ihm, und der Winter hatte begonnen. Bald würde er im Garten ein großes Feuer machen und die 150 schwarz eingeschlagenen Hefte hineinwerfen. Insgesamt mehr als 20.000 Gedichte. 57 Jahre lang jeden Tag eines. Vielleicht das am besten gehütete Geheimnis seines Lebens. Selbst seiner zweiten Frau hatte er sie nicht gezeigt.
    Nach all diesen Jahren fragte er sich noch immer, woraus er seine Inspiration geschöpft hatte. Wenn er auf sein Leben zurückblickte, sah er nur eine lange Folge von Tagen, die immer mit einem Gedicht ausklangen, das er am Abend in der Stille seines Arbeitszimmers niederschrieb. Alle waren datiert. Er konnte das heraussuchen, das er am Geburtstag seines Sohnes geschrieben hatte, das vom Todestag seiner ersten Frau, das von dem Tag, an dem er von England nach Frankreich gezogen war … Er ging nie zu Bett, bevor das Gedicht fertig war – manchmal erst um ein oder zwei Uhr morgens, selbst als er noch berufstätig war. Er hatte nie viel Schlaf gebraucht, und er hatte keinen körperlich anstrengenden Beruf: Englisch-Professor an der Universität Marsac.
    Oliver Winshaw wurde bald neunzig.
    Er war ein umgänglicher und eleganter alter Herr, den alle kannten. Als er sich in diesem malerischen Universitätsstädtchen niedergelassen hatte, wurde ihm gleich der Spitzname „der Engländer“ verliehen. Das war vor der Zeit, als seine Landsleute wie ein Heuschreckenschwarm in diese Gegend einfielen, um alles zu restaurieren, was alte Gemäuer besaß, so dass dieser Spitzname etwas verwässert wurde. Heute war er nur noch einer unter Hunderten von Engländern in diesem Departement. Aber die Wirtschaftskrise veranlasste einen seiner Landsleute nach dem anderen dazu, in Regionen weiterzuziehen, die finanziell gesehen attraktiver waren: Kroatien, Andalusien, und Oliver fragte sich, ob er es wohl noch erleben würde, wieder der einzige Engländer von Marsac zu sein.
     
    Durch den Seerosenteich
    gleitet der Schatten ohne Gesicht,
    Die lange, schmale und düstre Gestalt,
    eine scharfe Klinge im Wasser.
     
    Wieder hielt er inne.
    Musik … Durch das Prasseln des Regens und die zwischen den Rändern des Himmels pendelnden Echos des Donners glaubte er Musik zu hören. Sie konnte nicht von Christine stammen, denn sie schlief längst. Ja, sie kam von draußen, und es war klassische Musik …
    Oliver verzog missbilligend das Gesicht. Die Lautstärke musste voll aufgedreht sein, damit er sie bei Gewitter und geschlossenem Fenster bis in sein Arbeitszimmer hören konnte. Vergeblich versuchte er sich auf sein Gedicht zu konzentrieren - diese verdammte Musik!
    Verärgert blickte er erneut zum Fenster. Das zuckende Licht der Blitze fiel durch die Jalousien ins Innere. Durch die Lamellen sah er die Wasserschnüre des Regens. Das Gewitter schien seinen ganzen Grimm an der kleinen Stadt auszulassen, spann sie in einen flüssigen Kokon ein und schnitt sie vom Rest der Welt ab.
    Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
    Er ging zum Fenster und spreizte die Lamellen der Jalousie, um auf die Straße zu schauen. Aus der Ablaufrinne in der Mitte schwappte das Wasser auf die Pflastersteine. Der nächtliche Himmel über den Dächern war durchzuckt von aufflackernden Lichtfäden.
    Alle Fenster im Haus gegenüber waren erleuchtet. Wurde dort etwa ein Fest gefeiert? In dem Reihenhaus mit seitlichem Garten, der durch eine hohe Mauer von der Straße getrennt und vor Blicken geschützt war, wohnte eine alleinstehende Frau. Sie war Lehrerin in der Khâgne von Marsac, der Klasse, in der Abiturienten auf die Aufnahmeprüfung bei einer der geisteswissenschaftlichen Elitehochschulen des Landes vorbereitet wurden – und es war die angesehenste Khâgne in der gesamten Region. Eine schöne Frau Mitte dreißig, im besten Alter. Schlank, brünett, eine
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