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Kindergeschichten (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Kindergeschichten (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Kindergeschichten (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Bichsel
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Automobil«, rechnete und zeichnete wochenlang und monatelang und erfand das Auto noch einmal, dann erfand er die Rolltreppe, er erfand das Telefon, und er erfand den Kühlschrank.
    Alles, was er in der Stadt gesehen hatte, erfand er noch einmal. Und jedes Mal, wenn er eine Erfindung gemacht hatte, zerriß er die Zeichnungen, warf sie weg und sagte: »Das gibt es schon.«
    Doch er blieb sein Leben lang ein richtiger Erfinder, denn auch Sachen, die es gibt, zu erfinden, ist schwer, und nur Erfinder können es.

Der Mann mit dem Gedächtnis
    Ich kannte einen Mann, der wußte den ganzen Fahrplan auswendig, denn das einzige, was ihm Freude machte, waren Eisenbahnen, und er verbrachte seine Zeit auf dem Bahnhof, schaute, wie die Züge ankamen und wie sie wegfuhren. Er bestaunte die Wagen, die Kraft der Lokomotiven, die Größe der Räder, bestaunte die aufspringenden Kondukteure und den Bahnhofsvorstand.
    Er kannte jeden Zug, wußte, woher er kam, wohin er ging, wann er irgendwo ankommen wird und welche Züge von da wieder abfahren und wann diese ankommen werden.
    Er wußte die Nummern der Züge, er wußte, an welchen Tagen sie fahren, ob sie einen Speisewagen haben, ob sie die Anschlüsse abwarten oder nicht. Erwußte, welche Züge Postwagen führen und wieviel eine Fahrkarte nach Frauenfeld, nach Olten, nach Niederbipp oder irgendwohin kostet.
    Er ging in keine Wirtschaft, ging nicht ins Kino, nicht spazieren, er besaß kein Fahrrad, keinen Radio, kein Fernsehen, las keine Zeitungen, keine Bücher, und wenn er Briefe bekommen hätte, hätte er auch diese nicht gelesen. Dazu fehlte ihm die Zeit, denn er verbrachte seine Tage im Bahnhof, und nur wenn der Fahrplan wechselte, im Mai und im Oktober, sah man ihn einige Wochen nicht mehr.
    Dann saß er zu Hause an seinem Tisch und lernte auswendig, las den neuen Fahrplan von der ersten bis zur letzten Seite, merkte sich die Änderungen und freute sich über sie.
    Es kam auch vor, daß ihn jemand nach einer Abfahrtszeit fragte. Dann strahlte er übers ganze Gesicht und wollte genau wissen, wohin die Reise gehe, und werihn fragte, verpaßte die Abfahrtszeit bestimmt, denn er ließ den Frager nicht mehr los, gab sich nicht damit zufrieden, die Zeit zu nennen, er nannte gleich die Nummer des Zuges, die Anzahl der Wagen, die möglichen Anschlüsse, die Fahrzeiten; erklärte, daß man mit diesem Zug nach Paris fahren könne, wo man umsteigen müsse und wann man ankäme, und er begriff nicht, daß das die Leute nicht interessierte. Wenn ihn aber jemand stehenließ und weiterging, bevor er sein ganzes Wissen erzählt hatte, wurde er böse, beschimpfte die Leute und rief ihnen nach: »Sie haben keine Ahnung von Eisenbahnen!«
    Er selbst bestieg nie einen Zug.
    Das hätte auch keinen Sinn, sagte er, denn er wisse ja zum voraus, wann der Zug ankomme.
    »Nur Leute mit schlechtem Gedächtnis fahren Eisenbahn«, sagte er, »denn wenn sie ein gutes Gedächtnis hätten, könntensie sich doch wie ich die Abfahrts- und Ankunftszeit merken, und sie müßten nicht fahren, um die Zeit zu erleben.«
    Ich versuchte, es ihm zu erklären, ich sagte: »Es gibt aber Leute, die freuen sich über die Fahrt, die fahren gern Eisenbahn und schauen zum Fenster hinaus und schauen, wo sie vorbeikommen.«
    Da wurde er böse, denn er glaubte, ich wolle ihn auslachen, und er sagte: »Auch das steht im Fahrplan, sie kommen an Luterbach vorbei und an Deitigen, an Wangen, Niederbipp, Önsingen, Oberbuchsiten, Egerkingen und Hägendorf.«
    »Vielleicht müssen die Leute mit der Bahn fahren, weil sie irgendwohin wollen«, sagte ich.
    »Auch das kann nicht wahr sein«, sagte er, »denn fast alle kommen irgend einmal zurück, und es gibt sogar Leute, die steigen jeden Morgen hier ein und kommen jeden Abend zurück – so ein schlechtes Gedächtnis haben sie.«Und er begann, die Leute auf dem Bahnhof zu beschimpfen. Er rief ihnen nach: »Ihr Idioten, ihr habt kein Gedächtnis.« Er rief ihnen nach: »An Hägendorf werdet ihr vorbeikommen«, und er glaubte, er verderbe ihnen damit den Spaß.
    Er rief: »Sie Dummkopf, Sie sind schon gestern gefahren.« Und als die Leute nur lachten, begann er sie von den Trittbrettern zu reißen und beschwor sie, ja nicht mit dem Zug zu fahren.
    »Ich kann Ihnen alles erklären«, schrie er, »Sie kommen um 14 Uhr 27 an Hägendorf vorbei, ich weiß es genau, und Sie werden es sehen, Sie verbrauchen Ihr Geld für nichts, im Fahrplan steht alles.«
    Bereits versuchte er, die Leute zu
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