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Kindergeschichten (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Kindergeschichten (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Kindergeschichten (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Bichsel
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verprügeln.
    »Wer nicht hören will, muß fühlen«, rief er.
    Da blieb dem Bahnhofsvorstand nichtsanderes übrig, als dem Mann zu sagen, daß er ihm den Bahnhof verbieten müsse, wenn er sich nicht anständig aufführe. Und der Mann erschrak, weil er ohne Bahnhof nicht leben konnte, und er sagte kein Wort mehr, saß den ganzen Tag auf der Bank, sah die Züge ankommen und die Züge wegfahren, und nur hie und da flüsterte er einige Zahlen vor sich hin, und er schaute den Leuten nach und konnte sie nicht begreifen.
    Hier wäre die Geschichte eigentlich zu Ende.
    Aber viele Jahre später wurde im Bahnhof ein Auskunftsbüro eröffnet. Dort saß ein Beamter in Uniform hinter dem Schalter, und er wußte auf alle Fragen über die Bahn eine Antwort. Das glaubte der Mann mit dem Gedächtnis nicht, und er ging jeden Tag ins neue Auskunftsbüro und fragte etwas sehr Kompliziertes, um den Beamten zu prüfen.Er fragte: »Welche Zugnummer hat der Zug, der um 16 Uhr 24 an den Sonntagen im Sommer in Lübeck ankommt?«
    Der Beamte schlug ein Buch auf und nannte die Zahl.
    Er fragte: »Wann bin ich in Moskau, wenn ich hier mit dem Zug um 6 Uhr 59 abfahre?«, und der Beamte sagte es ihm.
    Da ging der Mann mit dem Gedächtnis nach Hause, verbrannte seine Fahrpläne und vergaß alles, was er wußte.
    Am andern Tag aber fragte er den Beamten: »Wie viele Stufen hat die Treppe vor dem Bahnhof?«, und der Beamte sagte: »Ich weiß es nicht.«
    Jetzt rannte der Mann durch den ganzen Bahnhof, machte Luftsprünge vor Freude und rief: »Er weiß es nicht, er weiß es nicht.«
    Und er ging hin und zählte die Stufen der Bahnhoftreppe und prägte sich die Zahl in sein Gedächtnis ein, in dem jetzt keine Abfahrtszeiten mehr waren.Dann sah man ihn nie mehr im Bahnhof.
    Er ging jetzt in der Stadt von Haus zu Haus und zählte die Treppenstufen und merkte sie sich, und er wußte jetzt Zahlen, die in keinem Buch der Welt stehen.
    Als er aber die Zahl der Treppenstufen in der ganzen Stadt kannte, kam er auf den Bahnhof, ging an den Bahnschalter, kaufte sich eine Fahrkarte und stieg zum ersten Mal in seinem Leben in einen Zug, um in eine andere Stadt zu fahren und auch dort die Treppenstufen zu zählen, und dann weiter zu fahren, um die Treppenstufen in der ganzen Welt zu zählen, um etwas zu wissen, was niemand weiß und was kein Beamter in Büchern nachlesen kann.

Jodok läßt grüßen
    Von Onkel Jodok weiß ich gar nichts, außer daß er der Onkel des Großvaters war. Ich weiß nicht, wie er aussah, ich weiß nicht, wo er wohnte und was er arbeitete.
    Ich kenne nur seinen Namen: Jodok.
    Und ich kenne sonst niemanden, der so heißt.
    Der Großvater begann seine Geschichten mit: »Als Onkel Jodok noch lebte« oder mit »Als ich den Onkel Jodok besuchte« oder »Als mir Onkel Jodok eine Maulgeige schenkte«.
    Aber er erzählte nie von Onkel Jodok, sondern nur von der Zeit, in der Jodok noch lebte, von der Reise zu Jodok und von der Maulgeige von Jodok. Und wenn man ihn fragte: »Wer war Onkel Jodok?«, dann sagte er: »Ein gescheiter Mann.«Die Großmutter jedenfalls kannte keinen solchen Onkel, und mein Vater mußte lachen, wenn er den Namen hörte. Und der Großvater wurde böse, wenn der Vater lachte, und dann sagte die Großmutter: »Ja, ja, der Jodok«, und der Großvater war zufrieden.
    Lange Zeit glaubte ich, Onkel Jodok sei Förster gewesen, denn als ich einmal zum Großvater sagte: »Ich will Förster werden«, sagte er, »das würde den Onkel Jodok freuen.«
    Aber als ich Lokomotivführer werden wollte, sagte er das auch, und auch als ich nichts werden wollte. Der Großvater sagte immer: »Das würde den Onkel Jodok freuen.«
    Aber der Großvater war ein Lügner.
    Ich hatte ihn zwar gern, aber er war in seinem langen Leben zum Lügner geworden.
    Oft ging er zum Telefon, nahm den Hörer, stellte eine Nummer ein und sagte insTelefon: »Tag, Onkel Jodok, wie gehts denn, Onkel Jodok, nein, Onkel Jodok, ja doch, bestimmt, Onkel Jodok«, und wir wußten alle, daß er beim Sprechen die Gabel runterdrückte und nur so tat.
    Und die Großmutter wußte es auch, aber sie rief trotzdem: »Laß jetzt das Telefonieren, das kommt zu teuer.« Und der Großvater sagte: »Ich muß jetzt Schluß machen, Onkel Jodok« und kam zurück und sagte: »Jodok läßt grüßen.«
    Dabei hatte er früher immer gesagt: »Als Onkel Jodok noch lebte«, und jetzt sagte er schon: »Wir müssen unsern Onkel Jodok mal besuchen.«
    Oder er sagte: »Onkel Jodok besucht uns
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