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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht
Autoren: Dan Simmons
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Gesang war sehr laut.
    Kate, die ein Stöhnen nicht unterdrücken konnte, zog sich über den letzten Steinquader und schwang die zerkratzten und blutenden Beine von der Zinne auf einen niedrigen Sims, der an der Innenseite der Mauer entlanglief. Sie gönnte sich keine Zeit, Erleichterung zu verspüren, daß sie die Felswand überwunden hatte.
    Köpfe wurden in ihre Richtung gedreht. Der Gesang geriet ein wenig ins Stocken. Aber Radu Fortuna und der Mann, der sich Vernor Deacon Trent nannte, waren so auf die Zeremonie fixiert, daß sie die Köpfe nicht wandten.
    Bevor jemand sich bewegen konnte, rannte Kate zu Radu Fortuna. Ihre Beine, die nach der Kletterpartie unsicher waren, hätten beinahe unter ihr nachgegeben, aber sie biß die Zähne zusammen und legte die letzten zehn Schritte im Laufschritt zurück. Sie überlegte nicht, was für einen Anblick sie den versammelten Strigoi bieten mußte - eine Frau mit irrem Blick, die über die Schloßmauer geklettert kam, das Gesicht noch von Lucians Blut beschmiert, Hände blutend, Kleidung zerrissen und unordentlich.
    Vernor Deacon Trent sah sie als erster, riß die Augen mit den schweren Lidern auf und hob die Hand von der geschnitzten Lehne des Throns; Radu Fortuna sah sie eine Sekunde später.
    Nicht rechtzeitig.
    Kate stieß Fortuna heftig mit der Schulter an, rammte gegen seinen Brustkasten und hörte, wie die Luft aus seinen Lungen entwich. Er ließ Joshua fallen.
    Kate schnappe das Baby und wich zurück. Joshua war nicht viel schwerer als vor seiner Entführung; seine Haut war blaß, die Augen zu weit aufgerissen, zu dunkel, zu ängstlich. Er fing an zu weinen.
    Die Strigoi standen Reihe an Reihe. Jetzt wurden rote und schwarze Gewänder beiseite gestoßen, Wachen schrien und drängten von der rückwärtigen, fünfzehn Meter entfernten Mauer auf die Terrasse, die Menge stieß Schreie und Verwünschungen aus, Hände griffen nach Kate und dem Baby.
    Sie sah auf die Uhr. 00:20.
    Kate hastete zu dem niederen Sims zurück, sprang Sekunden, bevor Radu Fortuna sie ergreifen konnte, hinauf und dann sofort auf die Zinnen der Schloßmauer.
    Radu Fortuna und die anderen kamen drei Schritte von der Mauer entfernt schlitternd zum Stillstand.
    Kate trat gelassen auf die höhere Zinne und hielt Joshua mit beiden Armen über den Rand; die geschwollenen und blutenden Finger hatte sie fest unter seine winzigen Ärmchen gepreßt. Das rote Seidentuch fiel von ihm ab und flatterte im Wind, der an der Schloßmauer heraufwehte.
    »Keinen Schritt weiter!« schrie sie. »Oder ich lasse ihn fallen.«

Kapitel 40
     
    »Verrückte amerikanische Schlampe«, zischte Radu Fortuna, dessen Gesicht so nahe war, daß Kate weißen Speichel in seinen Mundwinkeln erkennen konnte, »Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, daß wir Sie und das Kind gehen lassen.«
    »Nein«, sagte Kate. Plötzlich war sie vollkommen ruhig. Bis hierher hatten ihre sämtlichen Bemühungen sie geführt. Hier sollte sie sein. Joshua hatte aufgehört zu weinen und strampelte nur sanft in ihren Händen. Seine winzigen Füßchen waren bloß, und sie mußte daran denken, wie oft sie ›Dieses kleine Schweinchen‹ miteinander gespielt hatten, bevor sie ihn zu Bett brachte. Er sah sie mit großen Augen an.
    »Geben Sie uns das Kind«, befahl Fortuna und kam noch einen Schritt näher.
    »Wenn Sie nicht zurückbleiben«, sagte Kate, »lasse ich ihn fallen.« Sie warf Joshua ein wenig in die Höhe und fing ihn wohlbehalten unter den Ärmchen auf. Aber ein Raunen ging durch die Menge der versammelten Strigoi.
    Radu Fortuna wich einen Schritt zurück. Die Menge war zu dicht und drängte so sehr nach vorn, daß ihm nicht mehr Raum blieb. Er drehte sich um und sagte wie aus der Pistole geschossen etwas auf rumänisch zu Vernor Deacon Trent. Der alte Mann stieg von seinem Thron und wurde zu einem Gesicht in der Menge.
    »Doktor«, sagte Vernor Deacon Trent zu ihr, »dies alles ist vollkommen sinnlos.«
    »O nein«, sagte Kate, »ganz und gar nicht.« Sie konnte ihre Uhr nicht sehen. Möglicherweise drei Minuten blieben ihr noch. Nicht genügend Zeit. Aber sie würde weitermachen.
    Vernor Deacon Trent zuckte die Achseln. Zwei riesige Leibwächter zupften ihn hastig am Ärmel, als stellte Kates Anwesenheit an sich schon eine Bedrohung dar. »Wenn Sie springen wollen, dann springen Sie«, sagte der alte Mann und wandte sich ab.
    Kate fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. »Lassen Sie ihn frei.« Sie nickte in die
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