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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer
Autoren: Stephanie Parris
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durchgebettelt
und Lehrertätigkeiten übernommen hatte, wann immer es mir möglich gewesen war, und in der ich in billigen Gasthäusern genächtigt hatte, wenn ich keine Arbeit hatte finden können, vorhergesagt hätte, dass ich einst als Vertrauter von Königen und Höflingen enden würde, hätte wohl alle Welt gedacht, derjenige habe den Verstand verloren. Alle – außer mir selbst: Ich hatte immer schon auf meine Fähigkeit vertraut, nicht nur zu überleben, sondern es auch aus eigener Kraft zu etwas zu bringen. Für mich zählten Geist und Verstand mehr als das Privileg, in eine adlige Familie hineingeboren worden zu sein; Wissbegier und die Bereitschaft zum Lernen waren für mich stets mehr wert gewesen als Rang und Stand, und ich war der festen Überzeugung, dass auch andere früher oder später einsehen würden, dass ich mit meiner Sichtweise richtiglag. Dieses Wissen gab mir die Kraft, Hürden zu überwinden, die andere Männer abgeschreckt hätten. So war ich im Alter von fünfunddreißig Jahren vom reisenden Lehrer und flüchtigen Ketzer so hoch aufgestiegen, wie es sich ein Philosoph nur erträumen konnte: Ich war ein Günstling am Hof von König Henri III. in Paris, sein Privatlehrer in der Kunst, das Gedächtnis zu schulen, sowie Philosophieprofessor an der berühmten Sorbonne. Aber wie alle anderen Orte, die ich während meines siebenjährigen Exils bereist hatte, war auch Frankreich von religiösen Kriegen zerrüttet. Die katholische Fraktion in Paris unter der Führung von Familie Guise begann die Hugenotten immer stärker zu unterdrücken, sodass bereits gemunkelt wurde, die Inquisition wäre auf dem Weg nach Frankreich. Zur gleichen Zeit trugen mir meine freundschaftliche Beziehung zum König und die Beliebtheit meiner Vorlesungen die Feindschaft der gelehrten Doktoren der Sorbonne ein, und in den Straßen und Gassen waren bereits Gerüchte im Umlauf, die auch den Höflingen zu Ohren kamen: Mein einzigartiges Gedächtnisschulungssystem sei eine Form der schwarzen Magie, die ich benutzte, um mit Dämonen zu kommunizieren. Dies wertete ich als Zeichen weiterzuziehen, wie ich es schon in Venedig, Padua,
Genua, Lyon, Toulouse und Genf getan hatte, wenn mich meine Vergangenheit einzuholen drohte. Wie so viele religiöse Flüchtlinge vor mir suchte ich im toleranten London von Elisabeth Zuflucht, wo die Römische Inquisition über keine Gerichtsbarkeit verfügte und wo ich überdies das verschollene Buch des ägyptischen Hohepriesters Hermes Trismegistos zu finden hoffte.
     
    Spätnachmittags legte die königliche Barke in Windsor an, wo wir von livrierten Dienstboten in Empfang genommen und zu unseren Unterkünften im Palast geführt wurden, um dort zu Abend zu essen und uns auszuruhen, bis wir früh am nächsten Morgen nach Oxford weiterreisten. Das Mahl verlief ziemlich schweigsam, was wohl zum Teil daran lag, dass sich der Himmel bedrohlich verdunkelt hatte, sodass die Kerzen schon früh entzündet werden mussten, und bis zum Ende unserer Mahlzeit lief das Wasser bereits in Strömen an den hohen Fenstern der großen Halle hinunter.
    »Wenn das so weitergeht, fährt morgen kein Boot«, bemerkte Sidney, als die Diener den Tisch abräumten. »Dann müssen wir den Rest der Reise auf der Straße zurücklegen, falls wir Pferde auftreiben können.«
    Der Palatin, der die Bootsfahrt sichtlich genossen hatte, verzog schmollend die Lippen.
    »Ich bin kein geübter Reiter«, nörgelte er. »Wir brauchen wenigstens eine Kutsche. Oder wir warten hier, bis sich das Wetter bessert«, schlug er hoffnungsvoll vor, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte begehrlich die kostbaren Möbel in der Halle.
    »Dazu fehlt uns die Zeit«, erwiderte Sidney. »Die Disputation findet übermorgen statt, und unser Redner muss sich noch die Argumente zurechtlegen, mit denen er seine Gegner zerschmettern wird, eh, Bruno?«
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit vom Fenster ab und bedachte ihn mit einem Lächeln.

    »Tatsächlich wollte ich mich gerade aus genau diesem Grund entschuldigen«, sagte ich.
    Sidney zog ein langes Gesicht.
    »Oh – willst du nicht noch eine Weile sitzen bleiben und mit uns Karten spielen?« Die Aussicht, den Rest des Abends mit dem Palatin alleine verbringen zu müssen, erschreckte ihn sichtlich.
    »Es tut mir leid, aber ich muss mich noch mit meinen Büchern beschäftigen.« Ich schob meinen Stuhl zurück. »Sonst lohnt es sich nicht, die Disputation überhaupt anzuhören.«
    »Das trifft für die
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